Die Wohlgesinnten
zufrieden, da habe ich nichts gesagt.« – »Und Sobibor?« Da arbeitete er zurzeit, wie er mir erzählt hatte. Er zuckte die Achseln: »Sobibor? Wie überall, man gewöhnt sich dran.« Er machte eine merkwürdige Bewegung, die mich sehr beeindruckte: Er bewegte die eine Stiefelspitze auf dem Fußboden hin und her, als zerdrücke er etwas. »Kleine Männer und kleine Frauen, immer das Gleiche. Als ob man Küchenschaben zertritt.«
Nach dem Krieg wurde viel geredet, sie versuchten zu erklären, was da an Unmenschlichem geschehen war. Aber das Unmenschliche – ich bitte um Entschuldigung –, das gibt esnicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche: Und dieser Döll ist ein schönes Beispiel dafür. Was ist er denn anderes als ein braver Familienvater, der seinen Kindern etwas zu essen geben wollte und seinem Staat gehorchte, auch wenn er in seinem Innersten nicht ganz einverstanden war? Wäre er in Frankreich oder Amerika geboren, hätte man ihn eine Stütze der Gesellschaft und einen Patrioten genannt; aber er wurde in Deutschland geboren, und deshalb ist er ein Verbrecher. Die Notwendigkeit ist, wie bereits die Griechen wussten, nicht nur eine blinde, sondern auch eine grausame Göttin. Nicht, dass in dieser Zeit an Kriminellen Mangel geherrscht hätte. Ganz Lublin versank – ich habe versucht, es zu schildern – in einer höchst zwielichtigen Atmosphäre der Korruption und des Exzesses; die »Aktion Reinhardt«, aber auch die Kolonisation, die Bewirtschaftung dieser isolierten Region, raubten mehr als einem den Verstand. Seit den Bemerkungen meines Freundes Voss habe ich viel über den Unterschied zwischen dem deutschen Kolonialismus, wie er in diesen Jahren im Osten praktiziert wurde, und dem augenscheinlich zivilisierteren Kolonialismus der Briten und Franzosen nachgedacht. Es gibt, wie Voss dargelegt hatte, einige objektive Tatsachen: Nach dem Verlust seiner Kolonien im Jahre 1919 musste Deutschland seine Beamten zurückrufen und seine Kolonialverwaltungen schließen; die Ausbildungsstätten blieben aus Prinzip bestehen, hatten aber, wegen mangelnder Berufsaussichten, keinerlei Zuspruch; zwanzig Jahre später war das ganze Wissen verloren. Angesichts dieser Sachlage hatte der Nationalsozialismus einer ganzen Generation neue Impulse gegeben – einer Generation, die von neuen Ideen erfüllt und begierig auf neue Erfahrungen war, die in Bezug auf die Kolonisierung vielleicht nicht schlechter waren als die alten. Was die Exzesse anging – die widerwärtigen Verirrungen wie die im Deutschen Haus , deren Zeuge ich geworden war, oder, grundsätzlicher, derUmstand, dass unsere Verwaltungen offenbar unfähig waren, die kolonisierten Völker, von denen einige bereit gewesen wären, uns gutwillig zu dienen, wenn wir uns dafür erkenntlich gezeigt hätten, anders als mit brutaler Gewalt und Verachtung zu behandeln –, was also diese Exzesse anging, so dürfen wir auch nicht vergessen, dass unser Kolonialismus, sogar der afrikanische, ein junges Phänomen war und dass die anderen es in ihren Anfängen kaum besser gemacht haben: Denken wir nur an die massive Ausrottungspolitik der Belgier im Kongo, an ihre systematischen Verstümmelungen, oder auch an die amerikanische Politik, die ja Vorläufer und Vorbild für uns ist: die Schaffung von Lebensraum durch Mord und Vertreibung – schließlich war Amerika, was gerne vergessen wird, alles andere als »jungfräuliches Territorium«, nur dass den Amerikanern glückte, was uns misslungen ist; das ist der ganze Unterschied. Selbst die Engländer, die so oft als Beispiel angeführt werden und die Voss so bewunderte, brauchten erst das Trauma von 1858, um sich bemüßigt zu fühlen, etwas raffiniertere Kontrollmechanismen zu entwickeln; und wenn sie schließlich den Wechsel von Zuckerbrot und Peitsche virtuos beherrschten, darf nicht vergessen werden, dass sie dabei die Peitsche keineswegs vernachlässigten, wie das Amritsar-Massaker, die Bombardierung von Kabul und noch andere zahlreiche Fälle zeigen, an die wir uns nicht mehr erinnern.
Ich habe mich von meinem Ausgangspunkt entfernt. Eigentlich wollte ich sagen, dass der Mensch zwar sicherlich nicht, wie uns einige Dichter und Philosophen weismachen wollten, von Natur aus gut ist, dass er aber auch genauso wenig von Natur aus böse ist: das Gute und das Böse sind Kategorien, die dazu dienen können, die Wirkung der Handlungen eines Menschen auf einen anderen zu kennzeichnen; sie sind aber nach
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