Die Wohlgesinnten
sich und wandte sich an mich: »Aber ich will Sie nicht zurückhalten, Sturmbannführer. Die Getränke stehen auf den Tischen, bedienen Sie sich, viel Spaß!« – »Verbindlichsten Dank, Gruppenführer.« Ich verbeugte mich kurz und ging auf einen der Tische zu, die unter den Wein-, Bier-, Schnaps- und Kognakflaschen fast zusammenbrachen. Ich goss mir ein Glas Bier ein und blickte mich um. Ständig kamen neue Gäste, aber ich kannte kaum jemanden. Auch Frauen waren anwesend, einige Angestelltedes SSPF in Uniform, vor allem aber Frauen in Zivil, Offiziersgattinnen. Florstedt diskutierte mit seinen Kameraden aus dem Lager; Höfle saß allein auf einer Bank und rauchte, die Ellenbogen auf dem Tisch, eine offene Bierflasche vor sich; in Gedanken versunken, starrte er ins Leere. Ich hatte vor Kurzem erfahren, dass er im Frühjahr seine beiden Kinder verloren hatte, Zwillinge, von der Diphtherie dahingerafft; im Deutschen Haus erzählte man sich, er sei bei der Beerdigung heulend zusammengebrochen, weil er in seinem Unglück eine Strafe Gottes sehe, seither sei er nicht mehr der Alte (er sollte übrigens zwanzig Jahre später in einer Wiener Strafanstalt Selbstmord begehen, ohne das Urteil der Justiz abzuwarten, obwohl es sicherlich milder als das seines Schöpfers ausgefallen wäre). Ich entschied mich, ihn in Ruhe zu lassen, und schloss mich einer kleinen Gruppe an, die Johannes Müller, den KdS von Lublin, umringte. Vom Sehen kannte ich den KdO Kintrup; Müller machte mich mit seinem anderen Gesprächspartner bekannt: »Sturmbannführer Dr. Morgen. Er ist wie Sie dem Reichsführer persönlich unterstellt.« – »Interessant. In welcher Eigenschaft?« – »Dr. Morgen ist als SS-Richter der Kripo beigeordnet.« Morgen ergänzte: »Im Augenblick leite ich eine Sonderkommission, die im Auftrag des Reichsführers eine Untersuchung in den Konzentrationslagern durchführt. Und Sie?« Ich schilderte ihm meinen Auftrag in knappen Worten. »Dann befassen Sie sich also auch mit Lagern«, meinte er. Kintrup entfernte sich. Müller klopfte mir auf die Schulter: »Wenn Sie Dienstgespräche führen wollen, meine Herren, lasse ich Sie allein. Heute ist Sonntag.« Ich grüßte und wandte mich wieder Morgen zu. Er musterte mich mit seinen lebhaften, intelligenten, hinter der fast randlosen Brille ein wenig verschleierten Augen. »Und worum handelt es sich bei Ihrem Auftrag im Einzelnen?«, fragte ich ihn. »Im Prinzip ist es ein SS- und Polizeigericht ›mit Sonderauftrag‹. Ich bin unmittelbar vom Reichsführer bevollmächtigt,die Korruption in den KL zu untersuchen.« – »Sehr interessant. Gibt es viele Probleme?« – »Das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Die Korruption ist allgegenwärtig.« Mit einem Kopfnicken verwies er auf jemanden hinter mir und lächelte leicht: »Wenn Sturmbannführer Florstedt Sie mit mir sieht, wird das Ihnen Ihre Arbeit nicht gerade erleichtern.« – »Ermitteln Sie gegen Florstedt?« – »Unter anderem.« – »Und weiß er das?« – »Selbstverständlich. Es ist eine offizielle Untersuchung, ich habe ihn schon mehrfach vernommen.« Er hielt ein Glas Weißwein in der Hand; hin und wieder trank er einen Schluck, ich leerte mein Glas. »Das Thema interessiert mich außerordentlich«, begann ich wieder. Ich schilderte ihm meinen Eindruck, dass zwischen dem amtlichen Regelsatz an Verpflegung und dem, was die Häftlinge tatsächlich zu essen bekamen, eine Lücke klaffte. Er nickte: »Ja sicher, Lebensmittel werden auch geklaut und verschoben.« – »Von wem?« – »Von allen. Bis hinauf in die höchsten Stellen. Die Köche, die Kapos, die SS-Führer, die Depotverwalter und auch die höheren Dienstgrade.« – »Das ist ja ein Skandal, wenn das stimmt.« – »Völlig richtig. Der Reichsführer ist persönlich sehr betroffen. Ein SS-Mann muss Idealist sein: Er kann nicht seine Arbeit tun, während er gleichzeitig mit weiblichen Häftlingen hurt oder sich die Taschen füllt. Dennoch kommt es vor.« – »Und kommen Sie weiter mit Ihren Untersuchungen?« – »Das ist sehr schwierig. Diese Leute halten zusammen, und der Widerstand ist enorm.« – »Trotzdem, wenn Sie die volle Unterstützung des Reichsführers haben …« – »Erst seit kurzer Zeit. Dieses Sondergericht ist vor knapp einem Monat gebildet worden. Meine Untersuchungen führe ich seit zwei Jahren, und ich bin auf beträchtliche Hindernisse gestoßen. Wir haben mit dem KL Buchenwald bei Weimar begonnen – damals gehörte ich zum SS-
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