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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Häftlinge, vor allem die Polen, bleiben im Stammlager. Seit Februar habe ich außerdem ein Familienlager für die Zigeuner.« – »Ein Familienlager?« – »Ja. Auf Befehl des Reichsführers. Als er die Deportation der Zigeuner aus dem Reich beschloss, wollte er, dass sie nicht selektiert würden, die Familien sollten zusammenbleiben und nicht arbeiten. Aber viele sterben an Krankheiten. Sie haben keine Widerstandskraft.« Wir waren an eine Absperrung gelangt. Eine lange Hecke aus Bäumen und Büschen verbarg die Stacheldrahteinzäunung, die zwei lange identische Massivbauten einschloss, beide mit zwei hohen Schornsteinen ausgestattet. Höß parkte in der Nähe des rechten Gebäudes, inmitten eines spärlichen Kiefernbestandes. Auf einer gut gepflegten Rasenfläche vor dem Gebäude legten jüdische Frauen und Kinder unter der Aufsicht von Wachen und Häftlingen in gestreiften Anzügen ihre Kleidung ab. Die Kleidungsstücke wurden sorgfältig sortiert und gestapelt, auf jeden Haufen kam ein Stück Holz mit einer eingeschlagenen Nummer. Einer der Häftlinge schrie: »Schnell, schnell, unter die Dusche!« Die letzten Juden betraten das Gebäude; zwei kleine ausgelassene Jungen machten sich einen Spaß daraus, die Nummern auf den Haufen zu vertauschen; sie verzogen sich, als ein SS-Mann seinen Schlagstock hob. »Das ist nicht anders als in Treblinka oder in Sobibor«, meinte Höß. »Bis zur letzten Minute lässt man sie in dem Glauben, sie gingen zur Entlausung. Meistens geht das alles sehr ruhig vonstatten.« Er erklärte mir die Anlage: »Da unten haben wir zwei weitere Krematorien, die allerdings viel größer sind: Die Gaskammern sind unterirdisch und können mehr alszweitausend Personen aufnehmen. Hier sind die Kammern kleiner, und es gibt zwei pro Krema: Das ist sehr viel praktischer bei kleinen Transporten.« – »Welche Maximalkapazität?« – »Was die Vergasung angeht, praktisch unbegrenzt; entscheidend ist die Kapazität der Öfen. Sie sind eine Spezialanfertigung der Firma Topf für uns. Diese hier haben eine Nennleistung von siebenhundertachtundsechzig Leichen pro Ofen und vierundzwanzig Stunden. Aber wir können den Durchsatz auf tausend oder sogar tausendfünfhundert steigern, wenn nötig.« Eine Ambulanz mit einem roten Kreuz traf ein und hielt neben Höß’ Fahrzeug; ein SS-Arzt, der über seiner Uniform einen weißen Kittel trug, trat zu uns und grüßte. »Darf ich Sie mit Hauptsturmführer Dr. Mengele bekannt machen?«, sagte Höß. »Er kam vor zwei Monaten zu uns und ist jetzt Lagerarzt des Zigeunerlagers.« Ich schüttelte ihm die Hand. »Führen Sie heute die Aufsicht?«, fragte ihn Höß. Mengele nickte. Höß wandte sich an mich: »Möchten Sie den Vorgang beobachten?« – »Nicht nötig«, sagte ich. »Ich kenne das.« – »Aber unser Verfahren ist viel effizienter als Wirths’ Methode.« – »Ja, ich weiß. Das hat man mir schon im KL Lublin erklärt. Die haben Ihre Methode übernommen.« Da Höß etwas verstimmt zu sein schien, fragte ich ihn aus Höflichkeit: »Wie lange dauert es insgesamt?« Mengele antwortete mit seiner sanften, melodiösen Stimme: »Das Sonderkommando öffnet die Türen nach einer halben Stunde. Aber wir lassen noch etwas Zeit verstreichen, damit sich das Gas verflüchtigen kann. Grundsätzlich tritt der Tod in weniger als zehn Minuten ein. Fünfzehn bei hoher Luftfeuchtigkeit.«
    Wir waren zum »Kanada« gelangt, wo die konfiszierten Besitztümer gesichtet und gelagert wurden, bis man sie verschickte, als die Schornsteine des Krematoriums, das wir eben verlassen hatten, zu rauchen begannen und den gleichen süßlichen, grauenerregenden Gestank verbreiteten, den ichaus Beec kannte. Höß, der mein Unbehagen bemerkte, meinte: »Ich bin an diesen Geruch seit meiner frühen Kindheit gewöhnt. Es ist der Geruch von billigen Votivkerzen. Mein Vater war sehr gläubig und nahm mich häufig mit in die Kirche. Er wollte, dass ich Priester werde. Da wir kein Geld hatten, stellten wir Kerzen aus Rindertalg her; sie strömten den gleichen Geruch aus. Das liegt an irgendeinem chemischen Bestandteil, ich habe den Namen vergessen; das hat mir Wirths, unser medizinischer Leiter, erklärt.« Er bestand darauf, mir auch noch die beiden anderen Krematorien zu zeigen, gewaltige Bauten, die im Augenblick nicht in Betrieb waren, das Frauenlager und die Kläranlage, die nach wiederholten Beschwerden des Distrikts gebaut worden war, weil das Lager angeblich die Weichsel und das

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