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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Blockältesten Prostituierte, Entartete! Und die männlichen Blockältesten halten sich meist das, was man hier einen Pipel nennt, einen jungen Burschen, der ihnen sexuell zu Diensten sein muss. Das sind die Leute, auf die wir uns stützen! Die ›Roten‹ dagegen weigern sich alle, die Bordelle für Funktionshäftlinge aufzusuchen. Und das, obwohl einige von ihnen seit zehn Jahren in Lagern sind. Sie bewahren eine beeindruckende Disziplin. Zweitens: Der Schwerpunkt ist jetzt die Organisation der Arbeit. Und kann man sich einen besseren Organisator denken als einen Kommunisten oder einen militanten Sozialdemokraten? Den ›Grünen‹ fällt nichts anderes ein, als zuprügeln und immer wieder zu prügeln. Drittens: Ich bekomme immer wieder zu hören, dass die ›Roten‹ die Produktion vorsätzlich sabotieren würden. Darauf pflege ich zu antworten, dass die Produktion kaum schlechter werden könne, als sie gegenwärtig ist, und dass es außerdem Möglichkeiten der Kontrolle gebe: Die Politischen sind keine Dummköpfe, sie wissen sehr gut, dass sie beim geringsten Problem abgesetzt würden und dann die Sträflinge zurückkämen. Es läge also ganz und gar in ihrem eigenen Interesse und in dem aller Häftlinge, für eine gute Produktion zu sorgen. Das zeigt das Beispiel von Dachau, wo ich kurze Zeit gearbeitet habe: Dort beaufsichtigen die ›Roten‹ alles, und ich darf Ihnen versichern, dass die Verhältnisse unvergleichlich viel besser sind als in Auschwitz. Hier, in meinem eigenen Dienstbereich, beschäftige ich nur Politische. Und ich habe keinen Grund zur Klage. Mein Privatsekretär ist ein österreichischer Kommunist, ein ernsthafter, ruhiger und tüchtiger junger Mann. Von Zeit zu Zeit führen wir sehr offene Gespräche, und die sind sehr nützlich für mich, weil er von den anderen Häftlingen Dinge weiß, die man mir verheimlicht, aber er berichtet sie mir. Ich habe mehr Vertrauen zu ihm als zu einigen meiner SS-Kameraden.« Wir sprachen auch über die Selektion. »Ich halte das Prinzip für abscheulich«, gestand er mir offen. »Doch da es nun einmal gemacht werden muss, sollte es ganz den Ärzten überlassen bleiben. Zuerst haben sich der Lagerführer und seine Leute damit befasst. Sie verfuhren vollkommen willkürlich, mit einer unvorstellbaren Brutalität. Jetzt gehen wir wenigstens mit einer gewissen Ordnung und nach vernünftigen Kriterien vor.« Wirths hatte angeordnet, dass alle Ärzte abwechselnd auf der Rampe Dienst taten. »Ich nehme mich auch nicht aus, obwohl ich es grauenhaft finde. Ich muss mit gutem Beispiel vorangehen.« Er blickte verloren vor sich hin, als er das sagte. Es passierte mir nicht zum ersten Mal, dass meine Gesprächspartnersich so offen äußerten: Seit Übernahme meines Auftrags traf ich immer wieder auf Einzelne, die sich mir – entweder weil sie instinktiv begriffen, dass ich mich für ihre Probleme interessierte, oder weil sie in mir jemanden zu finden hofften, der sich ihre Beschwerden anhören oder sie höheren Orts zur Sprache bringen würde – weit über die dienstlichen Belange hinaus anvertrauten. Es ist sicherlich richtig, dass Wirths in Auschwitz kein geneigtes Ohr gefunden haben dürfte: Höß war tüchtig und kompetent, aber ohne jedes Feingefühl, was auch für den größten Teil seiner Untergebenen gegolten haben dürfte.
    Gewissenhaft inspizierte ich die verschiedenen Teile des Lagers. Dabei kehrte ich mehrfach nach Birkenau zurück und ließ mir das System der Inventarisierung der konfiszierten Besitztümer im »Kanada« zeigen. Es herrschte eine unvorstellbare Unordnung: Kisten mit Devisen, die niemand gezählt hatte, lagerten dort, und mit den Füßen wühlte man in Geldscheinen, die zerrissen im Schmutz auf den Gängen herumlagen. Im Prinzip wurden die Häftlinge beim Verlassen der Zone durchsucht; aber ich vermutete, dass es mit einer Uhr oder einigen Reichsmark nicht schwer war, einen Wachmann zu bestechen. Der »grüne« Kapo, der Buch führte, bestätigte mir das übrigens indirekt: Nachdem er mich sein Kafarnaum hatte besichtigen lassen – Wanderdünen aus getragener Kleidung, von den Funktionshäftlingen ausgebessert, sortiert und wieder gestapelt, nachdem sie vorher als Erstes die gelben Sterne abgetrennt hatten; Kisten mit Brillen, Uhren und Stiften in wildem Durcheinander, Reihen ordentlich aufgestellter Sportkarren und Kinderwagen; gebündeltes Frauenhaar, in ganzen Ballen für deutsche Firmen bestimmt, die es zu Socken für unsere

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