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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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– wenn auch mit der Zeit ein wenig verschlissenen – virilen Autorität derer, die Kavallerieattacken und Scharmützel der Freikorps selbst erlebt hatten. Er empfing mich mit deutschem Gruß, dann schüttelte er mir die Hand; er lächelte nicht, schien aber nichts gegen meinen Besuch zu haben. Er trug Lederbreeches, die bei ihm kein Operettenaufzug zu sein schienen: Er hatte im Lager einen Reitstall, den er häufig benutzte; in Oranienburg hieß es, er sei häufiger auf dem Pferderücken als hinter seinem Schreibtisch anzutreffen. Beim Sprechen hielt er seine erstaunlich blassen und verschwommenen Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet, was mich aus der Fassung brachte, als wenn er ständig im Begriff war, etwas zu fixieren, was ihm knapp entglitt. Mein Besuch war ihm vom WVHA per Fernschreiben angekündigt worden: »Das Lager steht zu Ihrer Verfügung.« Eigentlich die Lager, denn Höß unterhielt ein ganzes Netz von Lagern: das »Stammlager« hinter der Kommandantur, aber auch Auschwitz II, ein in ein Konzentrationslager umgewandeltes Kriegsgefangenenlager, das einige Kilometer hinter dem Bahnhof in der Ebenelag, bei dem ehemaligen polnischen Dorf Birkenau, ein großes Arbeitslager jenseits der Soa und der Stadt für die Bunawerke der IG Farben in Dwory und noch ungefähr zehn weit verstreute »Nebenlager«, die für landwirtschaftliche Betriebe, Bergwerke oder Eisenhütten eingerichtet worden waren. Während seiner Erläuterungen zeigte Höß mir all das auf einer großen, an der Wand seines Dienstzimmers befestigten Karte: Mit dem Finger umriss er das Interessengebiet des Lagers, das das ganze Terrain zwischen Weichsel und Soa und weitere zehn Kilometer im Süden umfasste, ausgenommen das Gelände um den Personenbahnhof, der der Gemeinde unterstand. »Darüber hat es im letzten Jahr ein paar Meinungsverschiedenheiten gegeben«, erklärte er mir. »Die Stadt hatte vor, ein neues Quartier für die Unterbringung der Eisenbahner zu bauen, während wir dort ein Dorf für unsere verheirateten SS-Männer und ihre Familien errichten wollten. Am Ende passierte gar nichts. Aber das Lager wird ständig erweitert.«
    Wenn Höß statt eines Pferdes ein Auto nahm, fuhr er gern selbst, daher holte er mich am nächsten Morgen vor dem Eingang des Hauses ab. Piontek, den ich nicht brauchte, bat mich um einen freien Tag, er wollte mit dem Zug nach Tarnowitz fahren, um seine Familie zu besuchen; ich gab ihm auch die Nacht frei. Höß schlug mir vor, mit Auschwitz II zu beginnen: Es wurde ein Transport aus Frankreich erwartet, er wollte mir den Ablauf einer Selektion zeigen. Diese fand unter Aufsicht des Standortarztes Dr. Thilo auf der Rampe des auf halbem Wege zwischen beiden Lagern gelegenen Güterbahnhofs statt. Bei unserer Ankunft stand der Arzt wartend am Kopf der Rampe, umgeben von Wachsoldaten der Waffen-SS, Hunden und Häftlingstrupps in gestreiften Anzügen, die die Mützen von ihren rasierten Schädeln rissen, sobald sie unserer ansichtig wurden. Das Wetter war noch schöner als am Vortag, das Gebirge im Süden glänzte inder Sonne: Aus dieser Richtung kam der Zug, nachdem er das Protektorat und die Slowakei durchquert hatte. Während wir warteten, erklärte mir Höß das Verfahren. Dann rollte der Zug heran, die Türen der gedeckten Güterwaggons wurden geöffnet. Ich hatte mich auf chaotische Verhältnisse gefasst gemacht: Doch trotz der Schreie und des Hundegebells ging alles relativ geordnet vonstatten. Sichtlich verstört und erschöpft, kletterten die Ankömmlinge inmitten eines entsetzlichen Gestanks von Exkrementen aus ihren Waggons; die Häftlinge des Arbeitskommandos brüllten sie in einem Kauderwelsch aus Polnisch, Jiddisch und Deutsch an, ließen sie ihr Gepäck absetzen und sich in zwei Reihen aufstellen, die Männer in der einen, Frauen und Kinder in der anderen; und während diese Reihen sich langsam auf Thilo zubewegten und Thilo die Arbeitsfähigen von den Arbeitsunfähigen trennte, wobei er die Mütter auf die gleiche Seite schickte wie ihre Kinder, in Richtung der ein Stück weiter weg wartenden Lastwagen – »ich weiß, dass sie arbeiten könnten«, hatte Höß mir erklärt, »aber wenn wir versuchen würden, sie von ihren Gören zu trennen, würden wir uns damit jede Menge Unannehmlichkeiten einhandeln« –, ging ich zwischen den Reihen entlang. Die meisten Leute unterhielten sich leise auf Französisch, andere, vermutlich naturalisierte oder ausländische Juden, in verschiedenen Sprachen:

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