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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Ich lauschte den Gesprächen, den Fragen und Kommentaren, die ich verstehen konnte; diese Menschen hatten nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden, noch was sie erwartete. Weisungsgemäß redeten die Häftlinge des Kommandos beruhigend auf sie ein: »Keine Sorge, ihr kommt nachher wieder zusammen, dann bekommt ihr euer Gepäck zurück, und nach der Dusche warten Tee und Suppe auf euch.« Die Reihen bewegten sich nur langsam vorwärts. Eine Frau zeigte auf ihr Kind, als sie mich sah, und fragte in gebrochenem Deutsch: »Herr Officier! Wir bleiben zusammen?«– »Beunruhigen Sie sich nicht, Madame«, erwiderte ich höflich auf Französisch, »Sie werden nicht getrennt.« Augenblicklich prasselten von allen Seiten Fragen auf mich ein: »Werden wir arbeiten? Können die Familien zusammenbleiben? Was geschieht mit den Alten?« Bevor ich antworten konnte, stürzte ein Unterführer vor und schlug mit dem Knüppel auf sie ein. »Es reicht, Rottenführer!«, brüllte ich. Betreten erwiderte er: »Wir müssen dafür sorgen, dass sie sich nicht aufregen, Sturmbannführer.« Einige Personen bluteten, Kinder weinten. Der ekelhafte Gestank, der mir aus den Waggons und sogar aus den Kleidern der Juden entgegenschlug, nahm mir den Atem, ich spürte den altvertrauten Brechreiz aufsteigen und atmete tief durch den Mund, um ihn zu unterdrücken. Aus den Waggons warfen Häftlingstrupps das zurückgelassene Gepäck rücksichtslos auf die Rampe; die Leichen der unterwegs Gestorbenen erlitten das gleiche Schicksal. Einige Kinder spielten Versteck: Die SS-Männer ließen sie gewähren, brüllten sie aber an, wenn sie sich dem Zug näherten, damit sie nicht unter die Waggons krochen. Hinter Thilo und Höß fuhren die ersten Lastwagen bereits ab. Ich stieg wieder zu den beiden hinauf und beobachtete Thilo bei der Arbeit: Bei einigen genügte ein Blick, bei anderen stellte er einige Fragen, die ein Dolmetscher übersetzte, untersuchte die Zähne, befühlte die Arme, ließ sie das Hemd aufknöpfen. »Sie werden sehen«, erklärte Höß, »in Birkenau haben wir nur zwei lächerliche Entlausungsstationen. An Tagen, an denen viel zu tun ist, beeinträchtigt das die Aufnahmekapazität erheblich. Doch für einen einzigen Transport reicht es gerade so.« – »Was tun Sie, wenn mehrere eintreffen?« – »Kommt drauf an. Einige können wir zum Aufnahmegebäude des Stammlagers schicken. Wenn nicht, sind wir gezwungen, die Quoten zu senken. Wir haben vor, eine neue zentrale ›Sauna‹ zu errichten, um das Problem zu beheben. Die Pläne sind fertig, ich warte nur nochauf die Kostenbewilligung der Amtsgruppe C. Wir haben ständig finanzielle Probleme. Ich soll das Lager vergrößern, mehr Häftlinge aufnehmen, mehr selektieren, aber wenn’s ums Bezahlen geht, gibt’s Ärger. Häufig muss ich improvisieren.« Ich runzelte die Stirn: »Was verstehen Sie unter improvisieren?« Er betrachtete mich mit seinen verschwommenen Augen: »Alles Mögliche. Ich treffe Vereinbarungen mit Firmen, die wir mit Arbeitern beliefern: Manchmal bezahlen sie mich in Naturalien, mit Baustoffen oder anderen Dingen. So habe ich sogar Lastwagen bekommen. Eine Firma hat sie mir zum Transportieren ihrer Arbeiter geschickt, hat sie aber nie zurückverlangt. Man muss sich zu helfen wissen.« Die Selektion ging langsam zu Ende: Das Ganze hatte keine Stunde gedauert. Als die letzten Lastwagen beladen waren, rechnete Thilo die Zahlen rasch zusammen und zeigte sie uns: Von tausend Ankömmlingen hatte er 369 Männer und 191 Frauen behalten. »55 Prozent«, erklärte er. »Bei den Transporten aus dem Westen erhalten wir gute Durchschnittswerte. Bei den polnischen Transporten dagegen ist es eine Katastrophe. Da kommen wir nie über 25 Prozent, und manchmal können wir bis auf 2 oder 3 Prozent nichts behalten.« – »Worauf führen Sie das zurück?« – »Sie kommen hier in einem erbärmlichen Zustand an. Im GG leben die Juden seit Jahren in Gettos, sie sind unterernährt und haben alle möglichen Krankheiten. Selbst von den Selektierten – und wir versuchen schon, darauf zu achten – sterben viele in der Quarantäne.« Ich wandte mich an Höß: »Bekommen Sie viele Transporte aus dem Westen?« – »Aus Frankreich war dies der siebenundfünfzigste. Zwanzig sind aus Belgien gekommen. Aus Holland weiß ich nicht mehr. Doch in den letzten Monaten haben wir vor allem Transporte aus Griechenland gehabt. Sie sind nicht sehr gut. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das

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