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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Aufnahmeverfahren.« Ich grüßte Thilo und stieg wieder in den Wagen. Höß fuhr schnell. Unterwegs ließ er sich weiterüber seine Schwierigkeiten aus: »Seit der Reichsführer Auschwitz für die Judenvernichtung vorgesehen hat, haben wir nur noch Probleme. Das ganze Jahr waren wir gezwungen, mit improvisierten Einrichtungen zu arbeiten. Richtiger Pfusch. Ich habe erst im Januar dieses Jahres mit dem Bau dauerhafter Anlagen beginnen können, die eine angemessene Aufnahmekapazität haben. Aber das ist alles noch nicht fertig. Es hat Verzögerungen gegeben, vor allem beim Transport des Baumaterials. Und dann kam es infolge der Eile zu Fabrikationsfehlern: Der Ofen in Krematorium III ist zwei Wochen nach seiner Inbetriebnahme gerissen, er war überheizt. Ich war gezwungen, ihn stillzulegen und reparieren zu lassen. Aber wir dürfen nicht die Nerven verlieren, wir müssen geduldig bleiben. Wir sind so überlastet, dass wir notgedrungen eine große Zahl von Zügen in die Lager von Gruppenführer Globocnik umleiten, wo natürlich keine Selektion stattfindet. Im Augenblick ist es ruhiger, aber in zehn Tagen fängt es wieder an: Dann räumt das GG seine letzten Gettos.« Vor uns, am Ende der Straße, erstreckte sich ein langes, an einem Ende durch einen Torbogen aufgelockertes rotes Ziegelsteingebäude, über dem sich ein spitzer Wachturm erhob; von den Seiten ausgehend, waren Stacheldrahtzäune an Betonpfosten gespannt, zwischen die sich in regelmäßigen Abständen Wachtürme reihten; und dahinter, so weit das Auge reichte, erstreckten sich endlose Reihen völlig gleich aussehender Holzbaracken. Das Lager war unglaublich weitläufig. Häftlingsgruppen in gestreifter Kleidung liefen auf den Wegen entlang, winzig, wie Insekten in einer Kolonie. Unter dem Turm, vor dem Gittertor, bog Höß nach rechts ab. »Die Lastwagen fahren hier geradeaus weiter. Die Kremas und die Entlausungsstationen sind dort hinten. Aber wir schauen vorher noch einmal kurz in der Kommandantur vorbei.« Der Wagen glitt an den frisch gekalkten Pfosten und den Wachtürmen entlang; die Baracken zogen in langen Reihenvorüber, ihre perfekte Ausrichtung schuf tiefe Perspektiven in Braun, sich verjüngende Diagonalen, die sich öffneten und mit der nächsten verschmolzen. »Stehen die Drähte unter Strom?« – »Seit Kurzem. Das war auch ein Problem, aber wir haben es gelöst.« Weiter hinten hatte Höß einen neuen Bauabschnitt in Angriff genommen. »Das wird der Häftlingskrankenbau, der alle Lager des Interessengebiets versorgen wird.« Er hatte gerade vor der Kommandantur gehalten und zeigte auf ein riesiges leeres, mit Stacheldraht eingezäuntes Feld. »Macht es Ihnen etwas aus, fünf Minuten zu warten? Ich muss mit dem Lagerführer kurz etwas besprechen.« Ich stieg aus und rauchte eine Zigarette. Auch das Gebäude, in dem Höß verschwand, war ein roter Ziegelbau mit Satteldach und einem dreistöckigen Turm in der Mitte; von da aus führte eine lange Straße an dem neuen Bauabschnitt vorbei und verschwand in Richtung eines Birkenwäldchens, das hinter den Baracken zu erkennen war. Es war kaum etwas zu hören, nur hin und wieder ein kurzer Befehl oder ein rauer Schrei. Ein Waffen-SS-Mann auf einem Fahrrad tauchte aus einem Feld des Mittelabschnitts auf und kam auf mich zu; auf meiner Höhe angelangt, grüßte er, ohne anzuhalten, und radelte gemächlich am Stacheldrahtzaun in Richtung Lagereingang entlang. Die Wachtürme waren nicht besetzt: Tagsüber hielten die Wachen Stellungen in einer »Großen Kette«, die beide Lager umschloss. Zerstreut fiel mein Blick auf Höß’ staubiges Auto: Hatte er nichts Besseres zu tun, als einen Besucher herumzukutschieren? Wie im KL Lublin hätte das auch ein Untergebener erledigen können. Doch Höß wusste, dass mein Bericht an den Reichsführer gehen würde, und vielleicht legte er Wert darauf, dass ich auch wirklich das ganze Ausmaß dessen begriff, was er hier leistete. Als er wieder auftauchte, warf ich die Kippe weg und stieg neben ihm ein; er fuhr in Richtung des Birkenwäldchens, wobei er mir jeweils die »Felder« oder Teilfelder des Mittelabschnitts zeigte: »Wirsind dabei, alles zu reorganisieren, um die Arbeitskräfte maximal zu nutzen. Wenn wir damit fertig sind, kann das Lager dazu dienen, die Industrie der Region und sogar des Altreichs mit Arbeitern zu versorgen. Die einzigen Dauerinsassen sind die Häftlinge, die für die Instandhaltung und Verwaltung des Lagers sorgen. Alle politischen

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