Die Wohlgesinnten
Frage der körperlichen Gewaltanwendung, ein interessantes Gespräch, und ich musste an die Probleme denken, auf die ich bereits bei den Einsatzgruppen gestoßen war. Wirths war wie ich der Ansicht, dass selbst die Männer, die anfangs nur aus Pflichtgefühl prügelten, am Ende Gefallen daran fanden. »Statt die hartgesottenen Kriminellen auf Vordermann zu bringen«, sagte er erbittert, »bestärken wir sie noch in ihrer Perversität, indem wir ihnen die anderen Gefangenen auf Gedeih und Verderb ausliefern. Und wir schaffen obendrein neue Kriminelle unter unseren SS-Männern. In ihrer gegenwärtigen Form sind diese Lager eine Brutstätte für Geisteskrankheiten und sadistische Verirrungen; wenn diese Männer nach dem Krieg ins Zivilleben zurückkehren, werden wir ein ziemliches Problem am Hals haben.« Nach allem, was ich gehört hätte, so erklärte ich ihm, gehe die Entscheidung, die Vernichtung den Lagern zu übertragen, teilweise auf die psychischen Probleme zurück, die bei den mit den Massenexekutionen betrauten Soldaten aufgetreten seien. »Gewiss«, erwiderte Wirths, »aber damit hat man das Problem nur verlagert, vor allem dadurch, dass man die Vernichtungsaufgaben mit den Straf- und Wirtschaftsfunktionen der gewöhnlichen Lager vermischt. Die Mentalität, die durch die Vernichtung entsteht, greift um sich und steckt alle übrigen Bereiche an.Selbst hier, in meinem Sanitätsbereich, habe ich entdeckt, dass die Ärzte ohne jede Weisung Patienten ermordet haben. Ich hatte große Schwierigkeiten, diese Praxis abzustellen. Sadistische Verirrungen sind sehr häufig, vor allem bei den Wächtern, und häufig mit sexuellen Störungen verknüpft.« – »Haben Sie konkrete Beispiele?« – »Damit kommen sie nur selten zu mir. Aber hin und wieder schon. Vor einem Monat ist ein Wachmann, der schon seit einem Jahr hier ist, zu mir in die Sprechstunde gekommen, ein Breslauer, siebenunddreißig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder. Er hat mir gestanden, dass er die Häftlinge schlägt, bis er ejakuliert, wobei er sich nicht einmal berührt. Er hat keine normalen sexuellen Beziehungen mehr; wenn er Urlaub hat, fährt er nicht nach Hause, so sehr schämt er sich. Bevor er aber nach Auschwitz gekommen sei, sagt er, sei er vollkommen normal gewesen.« – »Und was haben Sie für ihn tun können?« – »Unter diesen Bedingungen wenig. Er hätte eine langwierige psychiatrische Behandlung nötig. Ich habe versucht, ihn versetzen zu lassen, aus dem Lagersystem hinaus, aber das ist schwierig: Ich kann nicht alles zur Sprache bringen, sonst würde er verhaftet werden. Aber er ist krank, er braucht Hilfe.« – »Und wie entwickelt sich dieser Sadismus Ihrer Meinung nach?«, fragte ich. »Ich meine, bei normalen Männern, ohne entsprechende Veranlagung, wenn er nur unter solchen Bedingungen auftritt?« Nachdenklich blickte Wirths zum Fenster hinaus. Er brauchte lange, bevor er antwortete: »Das ist eine Frage, über die ich lange nachgedacht habe, sie ist schwer zu beantworten. Man könnte es sich leicht machen und unserer Propaganda die Schuld geben, wie sie hier unseren Mannschaften von Oberscharführer Knittel, dem Leiter der Kulturabteilung, präsentiert wird: Der Häftling ist ein Untermensch, also kein richtiger Mensch, daher ist es absolut legitim, ihn zu schlagen. Doch das stimmt vorn und hinten nicht: Schließlich sind auch die Tiere keine Menschen, aber keiner unsererWächter würde ein Tier behandeln, wie er die Häftlinge behandelt. Die Propaganda spielt tatsächlich eine Rolle, aber auf eine kompliziertere Weise. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der SS-Wachsoldat nicht gewalttätig oder sadistisch wird, weil er den Häftling nicht für ein menschliches Wesen hält; ganz im Gegenteil, seine Wut wächst und wandelt sich in Sadismus, sobald er merkt, dass der Häftling, weit davon entfernt, ein Untermensch zu sein, wie man ihn gelehrt hat, im Grunde genauso ein Mensch ist wie er selbst, und diese Widersetzlichkeit ist es, verstehen Sie, die der Wachsoldat unerträglich findet, dieses stumme Beharren des anderen, deshalb prügelt ihn der Wachsoldat, weil er versucht, ihm die ihnen gemeinsame Menschlichkeit auszutreiben. Wohlgemerkt, das klappt nicht: Je mehr der Wächter prügelt, desto klarer erkennt er, dass der Häftling nicht bereit ist, sich als Nichtmensch zu sehen. Am Ende bleibt ihm keine andere Möglichkeit, als ihn zu töten, was ein Eingeständnis seiner endgültigen Niederlage ist.« Wirths verstummte. Er
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