Die Wohlgesinnten
Anzahl der Geburten in den Schlafsälen deckte sich mit der Zahl der Todesfälle,sodass sich die Gesellschaft in vollkommenem dynamischem Gleichgewicht reproduzierte, ohne Überschuss und ohne Defizit. Beim Erwachen schien mir klar zu sein, dass diese heiteren Träume, die frei von jeder Angst waren, das Lager darstellten, allerdings ein vollkommenes Lager im Zustand einer kaum vorstellbaren Stase, gewaltlos, sich selbst regulierend, vollkommen funktionierend, aber auch vollkommen nutzlos, weil trotz all dieser Bewegung nichts produzierend. Doch als ich weiter darüber nachdachte, es zumindest versuchte, während ich meinen Ersatztee im Gastraum des Hauses der Waffen-SS trank, fragte ich mich, ob es nicht einfach eine Darstellung des sozialen Lebens in seiner Gesamtheit war. Ohne seine billige Verkleidung und seine vergebliche Geschäftigkeit bleibt vom menschlichen Leben kaum mehr als das übrig; sobald man sich fortgepflanzt hat, hat man den Zweck der Spezies erfüllt; und was den Zweck des eigenen Lebens angeht, so ist er nichts als Augenwischerei, ein Köder, der uns dazu bringen soll, morgens aufzustehen; doch wenn man die Sache objektiv betrachtete, wozu ich mich imstande glaubte, war die Nutzlosigkeit all dieser Bemühungen offenkundig, genauso wie die der Fortpflanzung selbst, da sie nur dazu diente, neue Nutzlosigkeiten hervorzubringen. Und so kam mir der Gedanke, dass das Lager selbst, mit seiner strengen Organisation, seiner absurden Gewalttätigkeit und seiner peniblen Hierarchie, womöglich nichts anderes als eine Metapher sei, eine reductio ad absurdum des täglichen Lebens.
Aber ich war nicht nach Auschwitz gekommen, um zu philosophieren. Ich inspizierte die Nebenlager: die dem Reichsführer so am Herzen liegende landwirtschaftliche Versuchsstation Raisko, wo Dr. Caesar mir erklärte, dass man nochimmer versuche, das Problem des großflächigen Anbaus der Pflanze Kok-Saghys zu lösen, die man – ihr erinnert euch vielleicht – bei Maikop entdeckt hatte und aus der man einen Kautschukersatz zu gewinnen hoffte; die Zementfabrik von Golleschau, das Stahlwerk Eintrachthütte, die Bergwerke Jawischowitz und Neu-Dachs. Von Raisko abgesehen, das in gewisser Weise ein Sonderfall war, erschienen die Verhältnisse – so weit möglich – noch schlimmer als im Bunawerk: Das Fehlen jeglicher Sicherheitsmaßnahmen führte zu zahllosen Unfällen, der Mangel an Hygiene war ein fortwährender Angriff auf die Sinne, die Gewalttätigkeit der Kapos und zivilen Vorarbeiter brach sich beim geringsten Vorwand hemmungslos und mörderisch Bahn. Mit den hin und her rüttelnden Gitterkörben der Aufzüge fuhr ich in die Tiefen der Bergwerksschächte hinab; auf jeder Sohle bohrten die von gelblichen Lampen spärlich erleuchteten Stollen Löcher in die Dunkelheit; der Häftling, der hier hinunterfuhr, musste jede Hoffnung verlieren, jemals das Tageslicht wiederzusehen. Auf der untersten Sohle rieselte das Wasser von den Stollenwänden, aus den niedrigen stinkenden Stollen drangen metallische Geräusche und Rufe. Halbe Ölfässer, auf denen quer ein Brett lag, dienten als Latrinen: Einige Häftlinge waren so schwach, dass sie hineinfielen. Andere, zu Skeletten abgemagert, die Beine von Ödemen geschwollen, schindeten sich ab, überladene Loren auf schlecht verlegten Gleisen zu schieben oder vor Ort mit Hacken und Presslufthämmern zu hantieren, die sie kaum halten konnten. Am Ausgang standen die erschöpften Arbeiter Schlange, stützten halb bewusstlose Kameraden, schleppten die Toten auf behelfsmäßigen Tragen und warteten darauf, an die Oberfläche zurückzukehren und nach Birkenau zurückgeschickt zu werden: Sie zumindest würden den Himmel wiedersehen, und sei es nur für ein paar Stunden. Als ich hörte, dass die Arbeiten beinahe überall langsamer vorankamen als von den Ingenieuren erwartet,überraschte mich das nicht: Die schlechte Qualität der vom Lager zugelieferten Ware wurde allgemein beklagt. Ein junger Ingenieur der Hermann-Göring-Werke versicherte mir resigniert, er habe versucht, eine Extraration für die Häftlinge in Jawischowitz zu bekommen; doch die Leitung hatte die Mehrkosten nicht genehmigt. Was eine Verminderung der Schläge anging, so meinte selbst dieser fortschrittlich denkende Mann bedauernd, dass das wohl schwierig sei: Wenn man schlage, bewegten sich die Häftlinge langsam, doch wenn man nicht schlage, bewegten sie sich überhaupt nicht.
Mit Dr. Wirths hatte ich über dieses Thema, die
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