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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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gehorchen; jeder trug auf der Brust ein andersfarbiges Dreieck aufgenäht: grün, rot, schwarz, violett. Hinter mir hörte ich Höß’ Stimme: »Sturmbannführer Aue! Was schauen Sie sich denn da an?« Ich drehte mich um: Höß kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu; hinter der Absperrung hielt eine Ordonnanz sein Pferd am Zügel. Ich grüßte, schüttelte ihm die Hand und zeigte wortlos in den Garten. Er bekam einen puterroten Kopf, stieß das Gittertor auf und stürzte sich auf die Kinder. Ohne ein Wort zu sagen, ohne sie zu ohrfeigen, riss er ihnen die Dreiecke und die Armbinde ab und schicktesie ins Haus. Mit immer noch gerötetem Gesicht kam er zu mir zurück, die Stofffetzen in der Hand. Er sah mich an, sah die Dreiecke an, dann wieder mich, ging, noch immer stumm, an mir vorbei und betrat die Hauptwache, wo er die Aufnäher in einen am Eingang stehenden Metallpapierkorb warf. Ich hob die Zigarette auf, die ich fortgeworfen hatte, um zu grüßen, und die noch brannte. Ein Gärtner in sauberer und gebügelter gestreifter Häftlingskleidung trat mit einem Rechen in der Hand neben mir aus dem Haus, zog vor mir sein Käppi und leerte den Papierkorb in einen Henkelkorb; dann kehrte er in den Garten zurück.
    Tagsüber fühlte ich mich frisch und ausgeruht; im Haus aß man gut, und abends dachte ich mit Vergnügen an mein Bett mit der sauberen Bettwäsche; aber nachts stürmten seit meiner Ankunft die Träume unablässig auf mich ein, manchmal kurz und plötzlich und rasch vergessen, dann wieder wie lange Würmer, die sich durch meinen Kopf schlängelten. Besonders eine Sequenz wiederholte und verstärkte sich Nacht für Nacht, ein dunkler und schwer zu beschreibender Traum, ohne Sinn und rechte Handlung, der sich aber nach einer gewissen räumlichen Logik entfaltete. Darin lief ich, jedoch wie in der Luft, auf verschiedenen Höhen – eher wie ein bloßer Blick oder sogar wie eine Kamera, nicht wie ein Lebewesen – durch eine unermessliche, scheinbar endlose Stadt mit einer eintönigen, sich wiederholenden Topographie, in geometrische Sektoren unterteilt und von starkem Verkehr belebt. Tausende von menschlichen Lebewesen kamen und gingen, betraten völlig gleich aussehende Gebäude und verließen sie wieder, folgten langen geraden Straßen, stiegen an Metroeingängen unter die Erde, kamen an anderer Stelle wieder zum Vorschein – unablässig und ohne erkennbares Ziel. Wenn ich mich oder vielmehr den Blick, der ich geworden war, in die Straßen hinabsenkte, um sie aus der Nähe zu betrachten, stellte ich fest, dass sich diese Männer und Frauendurch kein besonderes Merkmal voneinander unterschieden, alle hatten sie eine weiße Haut, helles Haar, blaue, blasse und ein wenig verschwommene Augen, Höß’ Augen, auch die Augen meines einstigen Burschen Hanika, als er in Charkow starb, Augen in der Farbe des Himmels. So weit das Auge reichte, durchschnitten Schienenstränge die Stadt, kleine Züge fuhren darauf und hielten regelmäßig, um eine Flut von Fahrgästen auszuspeien, die augenblicklich ersetzt wurden. Im Laufe der folgenden Nächte betrat ich einige dieser Gebäude: Schlangen bildeten sich zwischen langen gemeinschaftlichen Esstischen und Abtritten, sodass die Menschen, ohne die Schlange verlassen zu müssen, essen und sich entleeren konnten; andere hurten auf Etagenbetten, Kinder wurden geboren, spielten zwischen den Bettgestellen und verließen, wenn sie groß genug geworden waren, das Gebäude, um ihren Platz in der Menschenflut dieser Stadt des vollkommenen Glücks einzunehmen. Nach und nach, dank häufigen Perspektivenwechsels, konnte ich in diesem scheinbar willkürlichen Gewimmel eine gewisse Tendenz erkennen: Unmerklich landete eine bestimmte Anzahl von Menschen immer auf derselben Seite und betrat schließlich eine Reihe fensterloser Gebäude, wo sie sich hinlegten, um wortlos zu sterben. Spezialisten kamen und nahmen an sich, was der Wirtschaft der Stadt noch dienlich sein konnte; anschließend wurden ihre Leichen in Öfen verbrannt, mit denen gleichzeitig das Wasser erwärmt wurde, das über ein Rohrsystem auf die verschiedenen Abschnitte der Stadt verteilt wurde; die Knochen wurden aufgestapelt; die aus den Schornsteinen aufsteigenden Rauchsäulen vereinigten sich wie kleinere Zuflüsse mit den Rauchsäulen benachbarter Schornsteine, um einen ruhigen und feierlichen Strom zu bilden. Und als der Blickpunkt des Traums wieder an Höhe gewann, konnte ich in alldem ein Gleichgewicht erkennen: Die

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