Die Wohlgesinnten
blickte noch immer zum Fenster hinaus. Schließlich brach ich das Schweigen: »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr Doktor?« Wirths antwortete, ohne mich anzublicken; er trommelte mit seinen langen schmalen Fingern auf den Tisch: »Fragen Sie nur.« – »Sind Sie ein gläubiger Mensch?« Er brauchte einen Augenblick, um zu antworten. Er blickte immer noch nach draußen, auf die Straße und das Krematorium. »Ich war es, ja«, sagte er schließlich.
Ich hatte mich von Wirths verabschiedet und ging die Kasernenstraße zur Kommandantur hinauf. Kurz vor dem Wachposten am rot-weißen Schlagbaum bemerkte ich eines der Kinder von Höß, den Ältesten, der vor dem Eingangstor auf der Straße hockte. Ich trat näher und begrüßte ihn: »GutenTag!« Der Junge hob den Kopf, blickte mich aus seinen intelligenten Augen freimütig an und stand auf: »Guten Tag, Herr Sturmbannführer.« – »Wie heißt du?« – »Klaus.« – »Was gibt es hier zu sehen, Klaus?« Klaus zeigte auf die Tür: »Sehen Sie!« Der Boden vor der Türschwelle war schwarz von Ameisen, ein unglaubliches Gewimmel. Klaus hockte sich wieder hin, um sie zu beobachten, und ich beugte mich zu ihm hinab. Auf den ersten Blick schienen die vielen Tausend Ameisen völlig konfus durcheinanderzulaufen, hektisch und ziellos. Aber ich schaute genauer hin, versuchte eine im Auge zu behalten, dann eine andere. Da merkte ich, dass der abgehackte Rhythmus dieses Gewimmels sich daraus ergab, dass jedes Insekt immer wieder stehen blieb, um mit seinen Fühlern die der anderen zu berühren, die seinen Weg kreuzten. Nach und nach wurde mir klar, dass ein Teil der Ameisen nach links hinüber unterwegs war, während andere dorther kamen, mit Nahrungsbrocken beladen: eine aufreibende, maßlose Strapaze. Die Ankömmlinge informierten die anderen offenbar durch das Spiel der Fühler über die Lage der Futterquelle. Die Haustür öffnete sich, und ein Häftling, der Gärtner, den ich schon einmal gesehen hatte, trat heraus. Als er mich sah, straffte er sich und nahm das Käppi ab. Er war etwas älter als ich, ein polnischer Politischer, nach seinem Dreieck zu urteilen. Er bemerkte die Ameisen und sagte: »Ich werde sie vernichten, Herr Offizier.« – »Auf keinen Fall! Rühren Sie sie nicht an.« – »Oh ja, Stani«, fiel Klaus ein, »lass sie. Sie haben dir nichts getan.« Er wandte sich an mich: »Wohin laufen sie?« – »Ich weiß nicht. Lass uns nachsehen.« Die Ameisen folgten der Gartenmauer, liefen danach am Straßenrand entlang, beschrieben einen Bogen hinter den Autos und Motorrädern, die gegenüber der Kommandantur geparkt waren; in einer langen, hin und wieder von Zuckungen durchlaufenen Linie setzten sie ihren Weg hinter der Lagerverwaltung ganz gerade fort. Wir folgten ihnen Schrittfür Schritt und bewunderten ihre unermüdliche Entschlossenheit. Auf der Höhe der Politischen Abteilung angekommen, sah Klaus mich nervös an: »Entschuldigen Sie, Herr Sturmbannführer, mein Vater möchte nicht, dass ich hierherkomme.« – »Dann warte hier auf mich, ich berichte dir nachher.« Hinter der Baracke der Politischen Abteilung erhob sich die gedrungene Form des Krematoriums, eines ehemaligen Munitionsbunkers, der mit Erde bedeckt war und, vom Schornstein abgesehen, entfernt an einen abgeflachten Kurgan erinnerte. Die Ameisen hielten direkt auf seine dunkle Masse zu; sich durchs Gras schlängelnd, erkletterten sie seine schräge Seite; dann machten sie eine Wendung und kletterten an einer Betonwand hinab, dorthin, wo der Bunkereingang zurückgesetzt zwischen den Erdwällen lag. Ich folgte ihnen weiter und sah, dass sie durch die angelehnte Tür ins Innere des Krematoriums eindrangen. Ich blickte mich um: Abgesehen von einem Wächter, der mich neugierig musterte, und einer Kolonne Häftlinge, die ein Stück weiter, im Abschnitt der Lagererweiterung, Schubkarren hin und her schoben, war niemand zu sehen. Ich näherte mich der Tür, die von zwei fensterähnlichen Öffnungen eingerahmt wurde; im Inneren war es schwarz und still. Die Ameisen überquerten die Türschwelle ganz in der Ecke. Ich machte kehrt und ging zu Klaus zurück. »Sie gehen dort hinten hin«, sagte ich unbestimmt. »Da haben sie was zu fressen gefunden.« Den Kleinen im Schlepptau, kehrte ich zur Kommandantur zurück. Vor dem Eingang trennten wir uns. »Kommen Sie heute Abend zu uns, Herr Sturmbannführer?«, fragte Klaus. Höß gab einen kleinen Empfang und hatte mich eingeladen.
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