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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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natürlich. (Um ehrlich zu sein, sie war nicht die Einzige: Piontek war von seinem Aufenthalt in Tarnowitz mit einem Koffer voller Lebensmittel zurückgekommen und hatte übrigens angeboten, mir einen Teil davon ohne Lebensmittelmarken zu verkaufen.) Zu allem Überfluss hatte ich den Eindruck, dass sie in meiner Abwesenheit meine Sachen durchwühlt hatte. Leider begann sich meine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Gekeife und ihren Kindereien abzunutzen. Fräulein Praxa hatte ihre Frisur verändert, nicht aber die Farbe ihres Nagellacks. Thomas freute sich, mich wiederzusehen: Große Veränderungen kündigten sich an, behauptete er, nur gut, dass ich in Berlin sei; ich müsse mich bereithalten.
    Merkwürdiges Gefühl, sich nach einer solchen Reise plötzlich untätig zu sehen! Den Blanchot hatte ich schon längst durchgelesen; ich schlug die Abhandlung über den Ritualmord auf, nur um sie gleich wieder zu schließen, erstaunt, dass der Reichsführer an derart dummem Zeug interessiert sein konnte; ich hatte nichts privat zu regeln; meinedienstlichen Angelegenheiten waren erledigt. Das Fenster meines Dienstzimmers war zum Park des Prinz-Albrecht-Palais geöffnet, der hell, von der Augusthitze aber schon ausgetrocknet vor mir lag; die Füße über Kreuz auf dem Sofa oder ans Fenster gelehnt, rauchte ich eine Zigarette – so dachte ich nach. Wenn die Untätigkeit mir zu schaffen machte, ging ich im Park spazieren, schlenderte die staubigen Kieswege entlang, immer auf der Suche nach schattigen Winkeln auf dem Rasen. Ich dachte an das, was ich in Polen gesehen hatte, aber aus irgendeinem Grund, den ich nicht erklären konnte, glitten meine Gedanken über die Bilder hinweg und blieben an den Wörtern haften. Die Wörter beschäftigten mich. Ich hatte mich bereits gefragt, inwieweit die Unterschiede zwischen Deutschen und Russen, was das Gemetzel anging, und die Gründe, die uns letztlich veranlasst hatten, das Geschehen abzumildern, während die Russen sogar nach einem Vierteljahrhundert dafür unempfänglich zu sein schienen, auf sprachliche Unterschiede zurückzuführen sein könnten: Schließlich hat das Wort Tod die Starrheit einer bereits erkalteten Leiche, sauber, fast abstrakt, ist auf jeden Fall von der Endgültigkeit des Zustands danach, während smert , das russische Wort, schwer und fett ist wie die Sache selbst. Und wie sieht es mit dem Französischen aus? Nach meinem Gefühl bleibt diese Sprache der Feminisierung des Todes durch das Lateinische verpflichtet: Was für ein Unterschied letztlich zwischen la mort und all den fast anheimelnden und zärtlichen Bildern, die dieses Wort wachruft, und dem schrecklichen Thanatos der Griechen! Die Deutschen haben wenigstens das Maskulinum bewahrt ( smert ist, nebenbei gesagt, ebenfalls weiblich). Dort, im hellen Licht des Sommers, dachte ich an diese Entscheidung, die wir getroffen hatten, diese ungeheuerliche Idee, alle Juden zu töten, ohne Ansehen der Person, egal, ob jung oder alt, gut oder schlecht, das Judentum in seinen Trägern zu vernichten, eine Entscheidung,die die inzwischen wohlbekannte Bezeichnung Endlösung erhielt. Aber was für ein schönes Wort! Auch wenn es nicht immer ein Synonym für Vernichtung gewesen war: Von Anfang an hatten sie für die Juden eine Endlösung gefordert oder eine völlige Lösung oder auch eine allgemeine Lösung , und je nach dem Zeitpunkt bezeichnete das den Ausschluss vom öffentlichen Leben, den Ausschluss von der Wirtschaft und schließlich die Emigration. Und ganz allmählich war die Bedeutung auf den Abgrund zugerutscht, doch ohne dass sich die Bezeichnung verändert hatte, und es war, als hätte dieser unwiderrufliche Sinn schon immer im Herzen des Wortes gewohnt und als sei die Sache von ihm, seinem Gewicht, seiner ungeheuren Masse, in dieses schwarze Loch des Bewusstseins gezogen, mitgerissen worden: So haben wir den Ereignishorizont durchquert, der keine Rückkehr mehr erlaubt, und stürzen nun unaufhaltsam der Singularität entgegen. Die Welt glaubt noch an Ideen, an Begriffe, sie glaubt, dass Wörter Ideen bezeichnen, aber das muss nicht unbedingt wahr sein, vielleicht gibt es in Wahrheit gar keine Ideen, vielleicht gibt es tatsächlich nur Wörter und das den Wörtern eigene Gewicht. Und vielleicht haben wir uns einfach von einem Wort und seiner Unausweichlichkeit verleiten lassen. Hatten wir in uns also gar keine Idee, gar keine Logik, gar keinen Zusammenhang? Nur die Wörter unserer so außergewöhnlichen Sprache,

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