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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Besprechung, und ich schlug zur Vorbereitung der nächsten Sitzung eine Aufgabenteilung vor. Rizzi sollte versuchen, die Stichhaltigkeit seiner Annahmen zu überprüfen, Jedermann wollte uns die Beschränkungen seines Haushalts im Einzelnen darlegen, und Isenbeck beauftragte ich mit Weinrowskis Einverständnis (der offenkundig wenig Lust zum Reisen hatte), möglichst rasch vier Lager zu inspizieren – die KL Ravensbrück, Sachsenhausen, Groß-Rosen und Auschwitz; wir erwarteten seinen Bericht über die Verpflegungspläne, über die im letzten Monat tatsächlich für die Häftlinge zubereiteten Mahlzeiten und vor allem über Proben der Rationen, die analysiert werden sollten: Ich wollte die theoretisch vorgesehenen Mahlzeiten mit den tatsächlich ausgegebenen Rationen vergleichen können.
    Bei dieser letzten Bemerkung hatte Rizzi mir einen merkwürdigen Blick zugeworfen; nach Ende der Sitzung zog ich ihn in mein Dienstzimmer. »Haben Sie Gründe für die Annahme, dass die Häftlinge nicht bekommen, was ihnen zusteht?«, fragte er mich in seiner direkten, schroffen Art. Er schien ein intelligenter Mann zu sein, und seine Äußerungen hatten mir den Eindruck vermittelt, dass sich unsere Vorstellungen und Ziele decken könnten. Ich beschloss, ihn zu einem Verbündeten zu machen; auf jeden Fall hielt ich es für ungefährlich, offen mit ihm zu reden. »Habe ich«, erklärte ich, »die Korruption ist ein großes Problem in den Lagern. Ein Großteil der vom D IV gekauften Lebensmittel wird unterschlagen. Das lässt sich schwer beziffern, doch die Häftlinge am Ende der Kette – ich spreche nicht von den Kapos und den Prominenten – dürften um 20 bis 30 Prozent ihrer Rationen gebracht werden. Da diese schon nicht ausreichen, haben nur die Häftlinge, denen es gelingt, sich legal oder illegal etwas Zusätzliches zu beschaffen, eine Chance, mehr als ein paar Monate am Leben zu bleiben.« – »Verstehe.« Er dachte nach, wobei er sich den Nasenrücken unter der Brille rieb. »Wir müssten die durchschnittliche Lebenserwartung exakt berechnen und sie je nach Spezialisierungsgrad verändern.« Er machte wieder eine Pause und schloss dann: »Gut, ich lass mir das mal durch den Kopf gehen.«
    Ziemlich rasch musste ich leider einsehen, dass meine anfängliche Begeisterung wohl doch etwas enttäuscht werden würde. Die folgenden Besprechungen verhedderten sich in einer Fülle von technischen Einzelheiten, die so umfangreich wie widersprüchlich waren. Isenbeck hatte eine gute Analyse der Mahlzeiten erstellt, schien aber unfähig, sie zu den tatsächlich ausgegebenen Rationen in Beziehung zu setzen; Rizzi konzentrierte sich offenbar ganz auf die Unterteilung von angelernten und nicht angelernten Arbeitern und stellte Erstere in den Mittelpunkt unserer Bemühungen;Weinrowski gelang es nicht, sich mit Isenbeck und Alicke in der Frage der Vitamine zu einigen. Um die Debatten etwas zu beleben, lud ich einen Vertreter des Speer-Ministeriums ein; Schmelter, Speers Beauftragter für den Arbeitskräfteeinsatz, antwortete mir, es sei höchste Zeit, dass die SS sich dieses Problems annehme, und schickte mir einen Oberregierungsrat mit einer langen Beschwerdeliste. Speers Ministerium hatte gerade einige Befugnisse vom Wirtschaftsministerium übernommen und hieß nun Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion – RMfRuK, so die scheußliche Abkürzung –, um seine erweiterte Zuständigkeit auf diesem Gebiet zum Ausdruck zu bringen; und diese Neuordnung schien sich in dem ausgeprägten Selbstbewusstsein des Dr. Kühne niederzuschlagen, Schmelters Abgesandten. »Ich spreche nicht nur im Namen des Herrn Reichsministers«, begann er, nachdem ich ihn meinen Kameraden vorgestellt hatte, »sondern auch im Namen der Unternehmen, die von der SS zur Verfügung gestellte Arbeitskräfte einsetzen; wir müssen uns täglich ihre Beschwerden anhören.« Dieser Oberregierungsrat trug einen braunen Anzug, Fliege und preußischen Bürstenschnurrbart; seine spärlichen Haarsträhnen hatte er sorgfältig zur Seite gekämmt, um seine längliche Schädelwölbung zu bedecken. Doch seine bestimmte Redeweise strafte sein etwas lächerliches Aussehen Lügen: Wie uns zweifellos bekannt sei, träfen die Häftlinge im Allgemeinen in sehr mitgenommenem Zustand in den Fabriken ein und seien häufig schon nach wenigen Wochen so geschwächt, dass sie ins Lager zurückgeschickt werden müssten. Es seien aber mindestens mehrere Wochen erforderlich, bis sie

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