Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
Stapel Akten zurück: Ende der dreißiger Jahre hatte die medizinische Abteilung der IKL tatsächlich im KL Buchenwald eine Versuchsreihe zur Ernährung von Häftlingen durchgeführt, die zur Zwangsarbeit abkommandiert waren; unter Strafe oder Androhung von Strafe hatten die Ärzte eine große Zahl von Verpflegungssätzen getestet, wobei sie die Rationen häufig verändert und die Versuchspersonen regelmäßig gewogen hatten; auf diese Weise hatte sich einiges Zahlenmaterial ergeben. Während Isenbeck die Berichte durchsah, diskutierte ich mit Weinrowski über das, was wir »sekundäre Faktoren« nannten – wie Hygiene, Kälte, Krankheit, Schläge. Ich ließ mir vom SD eine Kopie meines Stalingrad-Berichts schicken, der genau diese Themen behandelt hatte; beim Überfliegen rief Weinrowski aus: »Ah, Sie zitieren ja Hohenegg!« Bei diesen Worten löste sich die Erinnerung an diesen Mann, die in mir wie eine Luftblase im Glas verborgen gelegen hatte, vom Hintergrund ab und stieg, immer schneller werdend, an die Oberfläche auf, wo sie zerbarst: Wie merkwürdig, sagte ich mir, ich habe schon lange nicht mehr an ihn gedacht. »Kennen Sie ihn?«, fragte ich Weinrowski in großer Erregung. »Sicher! Er ist ein Kollege von mir an der Medizinischen Fakultät in Wien.« – »Dann lebt er also noch?« – »Ja, bestimmt, warum sollte er nicht?«
    Ich machte mich augenblicklich auf die Suche nach ihm: Und tatsächlich, er lebte noch; ich hatte überhaupt keine Mühe, ihn zu finden; er arbeitete auch in Berlin, im Medizinischen Dienst des Bendlerblocks. Überglücklich ließ ich ihn ans Telefon holen, ohne meinen Namen zu nennen; seine träge melodische Stimme klang etwas verärgert, als er antwortete: »Ja?« – »Professor Hohenegg?« – »Am Apparat. Worum geht es?« – »Ich rufe Sie von der SS an. Es geht um eine alte Schuld.« Sein Tonfall wurde noch gereizter. »Wovon reden Sie? Wer sind Sie?« – »Ich rede von einer Flasche Kognak, die Sie mir vor neun Monaten versprochen haben.« Hohenegg brach in ein langes herzliches Gelächter aus: »Oh, das tut mir entsetzlich leid, ich muss Ihnen etwas gestehen: Ich habe Sie für tot gehalten und die Flasche auf Ihre Gesundheit getrunken.« – »Sie kleingläubiger Mensch!« – »Sie sind also noch am Leben.« – »Und befördert: zum Sturmbannführer.« – »Bravo! Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als eine neue Flasche aufzutreiben.« – »Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden: Wir trinken sie morgen Abend. Im Gegenzug lade ich Sie zum Abendessen ein. Bei Borchardt , um acht Uhr, passt Ihnen das?« Hohenegg stieß einen vielsagenden Pfiff aus: »Anscheinend haben Sie auch eine Gehaltserhöhung bekommen. Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Austernsaison noch nicht begonnen hat.« – »Nicht schlimm; dann nehmen wir halt Wildschweinpastete. Bis morgen.«
    Kaum hatte Hohenegg mich gesehen, wollte er unbedingt meine Narben abtasten; unter dem erstaunten Blick des Oberkellners, der uns die Weinkarte vorlegte, ließ ich ihn gewähren. »Schöne Arbeit«, sagte Hohenegg, »schöne Arbeit. Hätten Sie das schon vor Kislowodsk gehabt, hätte ich sie in meinen Vortrag geholt. Also war es doch gut, dass ich nicht lockergelassen habe.« – »Wie meinen Sie das?« – »Der Chirurg in Gumrak hatte bereits davon Abstand genommen,Sie zu operieren, was durchaus verständlich war. Er hatte Ihnen ein Tuch übers Gesicht gezogen und die Sanitäter angewiesen, Sie in den Schnee zu legen, wie es üblich war, damit es schneller zu Ende ging. Ich kam dort vorbei, sah, dass das Laken sich in Höhe des Mundes bewegte, und fand das natürlich merkwürdig: ein Toter, der unter seinem Leichentuch wie ein Stier schnaufte. Ich schlug es zurück: Sie können sich meine Überraschung vorstellen. Also habe ich mir gesagt, es sei ja wohl das Mindeste, von jemandem zu verlangen, sich um Sie zu kümmern. Der Chirurg wollte nicht, wir hatten einen kleinen Wortwechsel, aber ich war der Ranghöhere, er musste nachgeben. Er hörte nicht auf zu lamentieren, dass es Zeitverschwendung sei; ich war etwas in Eile, daher ließ ich ihn gewähren, und ich denke, er hat es bei einer Blutstillung bewenden lassen. Aber ich freue mich, dass es zu etwas nütze war.« Wie erstarrt lauschte ich seinen Worten; gleichzeitig fühlte ich mich unermesslich weit fort von alldem, als betreffe es einen anderen Menschen, den ich kaum gekannt hatte. Der Oberkellner brachte den Wein. Hohenegg hinderte ihn

Weitere Kostenlose Bücher