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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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vorgeschlagen; ich suchte sogar Oberregierungsrat Kühne noch einmal auf, um ihm von dieser Anregung zu berichten; er antwortete mir schriftlich, dass die Unternehmen in diesem Fall sicherlich keine jüdischen Häftlinge mehr nehmen würden, was im Widerspruch zum Abkommen zwischen Reichsminister Speer und dem Führer stehe und auch dem Erlass vom Januar 1943 über die Mobilisierung der Arbeitskraft widerspreche. Meine Kameraden waren trotzdem nicht bereit, den Gedanken ganz aufzugeben. Rizzi fragte Weinrowski, ob es technisch möglich sei, die Rationen zu berechnen, die geeignet seien, einen Menschen nach Ablauf einer bestimmten Frist sterben zu lassen; zum Beispiel eine Ration, die einem nicht qualifizierten Juden eine Frist von drei Monaten, und eine andere, die einem angelernten asozialen Arbeiter eine von neun Monaten gewähren würde. Weinrowski musste ihm erklären, dass das nicht möglich sei; wenn man andere Faktoren wie Kälte und Krankheiten außer Acht lasse, hänge alles vom Gewicht und der Widerstandskraft des Einzelnen ab; bei einer bestimmten Ration könne ein Individuum nach drei Wochen sterben, ein anderes dagegen unbefristet überleben, zumal sich der gewitzte Häftling stets einen Nachschlag zu verschaffen wisse, während der schon geschwächte und apathische Häftling, sich seinem Schicksal ergebend, umso rascher dahingerafft werde. Diese Überlegung gab Hauptsturmführer Dr. Alicke eine glänzende Idee ein: »Das heißt doch«, sagte er, als denke er laut, »dass die stärksten Häftlinge es immer schaffen, den Schwächeren einen Teil ihrer Rationen zu stibitzen und so zu überleben. Aber liegt es nicht in gewisser Weise in unserem Interesse, dass die schwächsten Häftlinge noch nicht einmal ihre vollständige Ration erhalten? Sobald sie einen bestimmten Schwächegrad unterschreiten, kommtes, automatisch, möchte ich sagen, dazu, dass ihnen ihre Ration gestohlen wird; sie essen weniger und sterben schneller, und damit sparen wir ihre Verpflegung. Die gestohlenen Anteile ihrer Ration dagegen kommen den auch so schon kräftigeren Häftlingen zugute, die auf diese Weise noch besser arbeiten. Das ist ganz einfach das Naturgesetz vom Überleben des Stärksten; so wie ein krankes Tier den Raubtieren rascher zum Opfer fällt.« Damit ging er nun doch etwas zu weit, und ich wies ihn scharf zurecht: »Hauptsturmführer, der Reichsführer hat das System der Konzentrationslager nicht geschaffen, um dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit Experimente über sozialdarwinistische Theorien durchzuführen. Ihre Überlegungen erscheinen mir deshalb nicht sehr sachdienlich.« Ich wandte mich an die Übrigen: »Das eigentliche Problem ist, wie wir die Prioritäten setzen wollen. Sollen die politischen Erfordernisse Vorrang haben? Oder die wirtschaftlichen?« – »Das wird sicherlich nicht auf unserer Ebene entschieden«, ließ sich Weinrowski ruhig vernehmen. »Mag sein«, warf Gorter ein, »aber was den Arbeitseinsatz angeht, sind die Befehle klar: Alles muss getan werden, um die Produktivität der Häftlinge zu steigern.« – »Aus Sicht unserer SS-Firmen«, bestätigte Rizzi, »gilt das Gleiche. Deshalb dürfen wir aber nicht bestimmte weltanschauliche Erfordernisse außer Acht lassen.« – »Auf jeden Fall haben nicht wir diese Frage zu entscheiden, meine Herren«, schloss ich. »Der Reichsführer hat mich aufgefordert, Empfehlungen zu formulieren, die die Interessen Ihrer verschiedenen Ämter berücksichtigen. Im schlimmsten Fall können wir mehrere Vorschläge ausarbeiten und ihm die Wahl überlassen; wie auch immer, es ist an ihm, die endgültige Entscheidung zu treffen.«

Ich begann einzusehen, dass diese unfruchtbaren Diskussionen noch endlos fortdauern konnten, eine Aussicht, die mich erschreckte; daher beschloss ich, die Taktik zu ändern: Fortan würde ich konkrete Vorschläge unterbreitenund sie – nötigenfalls mit kleinen Abänderungen – von den anderen absegnen lassen. Aus diesem Grund wollte ich mich zunächst mit den Fachleuten – Weinrowski und Isenbeck – abstimmen. Als ich Weinrowski darauf ansprach, begriff er rasch, worauf ich hinauswollte, und sicherte mir seine Unterstützung zu; und Isenbeck würde tun, was man ihm sagte. Aber uns fehlte es noch an konkreten Zahlen. Weinrowski glaubte zu wissen, dass die IKL bereits Untersuchungen zu dieser Frage durchgeführt hatte; ich schickte Isenbeck mit einem dienstlichen Auftrag nach Oranienburg; triumphierend kam er mit einem dicken

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