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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Seiten zu wechseln, und kaum hatten die Engländer und Amerikaner ihren Fuß auf italienischen Boden gesetzt, hatte er diese Gelegenheit auch beim Schopfe gepackt. »Zum Glück war der Führer schlauer als er!«, rief Weinrowski aus. »Das sagst du so«, murmelte Frau Weinrowski traurig, während sie uns Zucker anbot, »aber dein Karl ist dort unten, nicht der Führer.« Sie war eine etwasplumpe Frau, mit aufgeschwemmten müden Zügen; doch der Schnitt ihres Mundes und vor allem der Glanz der Augen ließen ihre frühere Schönheit erahnen. »Ach, sei doch still«, brummte Weinrowski, »der Führer weiß schon, was er tut. Schau dir diesen Skorzeny an! Wenn das kein Meisterstück war.« Das Kommandounternehmen auf dem Gran Sasso zur Befreiung Mussolinis beherrschte seit Tagen die Titelseiten der Goebbels-Presse. Seither hatten unsere Streitkräfte Norditalien besetzt, 650 000 italienische Soldaten interniert und eine faschistische Republik in Salò ausgerufen; und das Ganze wurde als bedeutender Sieg, als geniale Weitsicht des Führers ausgegeben. Aber die erneuten Bombenangriffe auf Berlin waren eine unmittelbare Reaktion darauf, die neue Front dünnte unsere Ost-Divisionen aus, und im August war es den Amerikanern gelungen, Ploiesti zu bombardieren, unsere letzten Ölfelder. Deutschland war nun wirklich zwischen zwei Fronten geraten.
    Hohenegg zog seinen Kognak hervor, und Weinrowski ging die Gläser holen; seine Frau war in der Küche verschwunden. Die Wohnung war dunkel, sie roch muffig und nach Moschus – der abgestandene Geruch der Wohnungen alter Leute. Ich habe mich immer gefragt, woher dieser Geruch kommt. Würde ich eines Tages auch so riechen, falls ich lange genug lebte? Komische Vorstellung. Heute rieche ich übrigens noch nichts; aber es heißt ja, den eigenen Geruch rieche man nie. Als Weinrowski zurückkam, füllte Hohenegg die Gläser, und wir tranken auf den gefallenen Sohn. Weinrowski schien gerührt. Dann holte ich die Unterlagen hervor, die ich vorbereitet hatte, und zeigte sie Hohenegg, nachdem ich Weinrowski gebeten hatte, etwas mehr Licht zu machen. Weinrowski hatte sich neben seinen ehemaligen Kollegen gesetzt und erläuterte die Papiere und Tabellen, die sich Hohenegg jeweils ansah; unbewusst waren sie in einen Wiener Dialekt verfallen, ich hatte ein wenig Schwierigkeiten,sie zu verstehen. Ich ließ mich tiefer in meinen Sessel sinken und trank Hoheneggs Kognak. Beide befleißigten sich einer merkwürdigen Haltung: Weinrowski war nämlich, wie Hohenegg mir erklärt hatte, an der Universität der Dienstältere gewesen, aber als Oberstarzt hatte Hohenegg den höheren Dienstgrad: Weinrowski war Sturmbannführer der Reserve, was dem Major entsprach. Sie schienen nicht recht zu wissen, wem von beiden der Vorrang gebührte, und legten deshalb beide eine besonders nachdrückliche Zuvorkommenheit an den Tag: »Ich bitte Sie«, »Nein, nein, gewiss doch, Sie haben Recht«, »Ihre Erfahrung …«, »Ihre Praxis …«, was ziemlich komisch war. Hohenegg hob den Kopf und blickte mich an: »Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie der Meinung, dass die Häftlinge noch nicht einmal die hier beschriebenen Rationen vollständig erhalten?« – »Von einigen privilegierten abgesehen, nein. Sie müssen Abstriche von mindestens 20 Prozent hinnehmen.« Hohenegg vertiefte sich wieder in das Gespräch mit Weinrowski. »Das ist schlimm.« – »Gewiss. Damit kommen sie auf 1300 bis 1700 Kalorien pro Tag.« – »Das ist immer noch mehr, als unsere Männer in Stalingrad hatten.« Er schaute wieder mich an: »Und was streben Sie an?« – »Ideal wäre eine normale Mindestration.« Hohenegg tippte auf die Papiere: »Ja, aber das ist, wenn ich es richtig verstanden habe, unmöglich. Mangels Masse.« – »In gewisser Weise ja, aber man könnte Verbesserungen vorschlagen.« Hohenegg dachte nach: »Ihr eigentliches Problem ist also, die richtigen Argumente zu finden. Der Häftling, der 1700 Kalorien erhalten müsste, bekommt nur 1300; damit er tatsächlich 1700 erhält …« – »Was vollkommen unzureichend ist«, warf Weinrowski ein – »… müsste die Ration 2100 Kalorien betragen. Aber wenn Sie 2100 verlangen, müssen Sie 2100 auch rechtfertigen. Sie können nicht sagen, dass Sie 2100 verlangen, um 1700 zu bekommen.« – »Wie immer ist die Unterhaltung mit Ihnen ein Vergnügen, Herr Oberstarzt«,sagte ich lächelnd. »Stets kommen Sie direkt auf den Kern des Problems.« Ohne sich unterbrechen zu lassen, fuhr

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