Die Wohlgesinnten
Hohenegg fort: »Warten Sie! Um 2100 zu verlangen, müssen Sie beweisen, dass 1700 nicht ausreichen, was Sie nicht können, weil sie tatsächlich nicht 1700 erhalten. Und natürlich können Sie in Ihrer Argumentation nicht auf die Unterschlagungen eingehen.« – »Schwerlich. Die Führung weiß, dass es das Problem gibt, aber wir dürfen uns nicht einmischen. Dafür sind andere Instanzen da.« – »Aha.« – »Also besteht das eigentliche Problem darin, eine Aufstockung des Gesamthaushalts zu erhalten. Doch die Leute, die für den Haushalt zuständig sind, vertreten die Ansicht, das müsse ausreichen, und das Gegenteil ist schwer zu beweisen. Selbst wenn wir zeigen, dass die Häftlinge weiterhin zu schnell sterben, bekommen wir zu hören, das Problem könne man nicht dadurch lösen, dass man ihnen Geld hinterherwerfe.« – »Was nicht unbedingt falsch ist.« Hohenegg rieb sich den Schädel; Weinrowski schwieg und hörte zu. »Ließe sich nicht der Verteilungsschlüssel ändern?«, fragte Hohenegg schließlich. »Das heißt?« – »Nun ja, indem man, ohne den Gesamthaushalt aufzustocken, die Häftlinge, die arbeiten, etwas begünstigt, und diejenigen, die nicht arbeiten, etwas benachteiligt.« – »Im Grunde gibt es keine Häftlinge, die nicht arbeiten, Herr Oberstarzt. Es gibt nur Kranke: Aber wenn wir denen noch weniger zu essen geben als jetzt, haben sie überhaupt keine Chance mehr, sich wieder zu erholen und arbeitsfähig zu werden. Dann brauchen wir ihnen gar nichts mehr zu essen zu geben; das würde jedoch die Sterblichkeit wieder erhöhen.« – »Ja, aber ich meine, Sie bringen doch die Frauen, die Kinder irgendwo unter? Die müssen doch auch verpflegt werden?« Ich sah ihn an, ohne zu antworten. Auch Weinrowski blieb stumm. Schließlich sagte ich: »Nein, Herr Oberstarzt, die Frauen, die Alten und die Kinder werden nicht untergebracht.« Hohenegg riss die Augen auf undstarrte mich wortlos an, als verlange er eine Bestätigung, dass ich gesagt hatte, was ich gesagt hatte. Ich schüttelte den Kopf. Endlich begriff er. Er stieß einen langen Seufzer aus und rieb sich den Nacken: »Also so ist das …« Weinrowski und ich sagten noch immer kein Wort. »Also wirklich … das ist wirklich stark.« Er atmete heftig: »Jetzt verstehe ich, worum es geht. Aber ich denke nach allem, vor allem nach Stalingrad, bleibt uns wohl keine andere Wahl.« – »Nein, Herr Oberstarzt, wohl kaum.« – »Trotzdem, das ist hart. Alle?« – »Alle, die nicht arbeiten können.« – »Na ja …« Er fasste sich wieder: »Im Grunde ist das normal. Es gibt keinen Grund, unsere Feinde besser zu behandeln als unsere eigenen Soldaten. Nach allem, was ich in Stalingrad gesehen habe … Da sind selbst diese Rationen der reine Luxus. Unsere Männer haben mit weit weniger durchgehalten. Und die Kameraden, die überlebt haben? Was gibt man denen jetzt zu essen? Was kriegen unsere Kameraden in Sibirien? Nein, nein, Sie haben völlig Recht.« Nachdenklich blickte er mich an: »Trotzdem, es ist eine Schweinerei, eine echte Sauerei. Aber Sie haben Recht.«
Ich hatte auch Recht gehabt, ihn um seine Meinung zu bitten: Hohenegg hatte sofort verstanden, was Weinrowski nicht begreifen konnte – dass es sich um ein politisches und kein technisches Problem handelte. Der technische Aspekt musste zur Rechtfertigung einer politischen Entscheidung herhalten, konnte sie aber nicht diktieren. An diesem Tag blieb unsere Diskussion ergebnislos; aber sie gab mir zu denken, und am Ende fand ich eine Lösung. Da ich den Eindruck hatte, Weinrowski könne nicht folgen, ließ ich ihn, um ihn zu beschäftigen, einen weiteren Bericht anfertigen und holte mir die nötigen technischen Informationen von Isenbeck. Ich hatte den Jungen unterschätzt: Er war sehr helle und durchaus in der Lage, meine Gedankengänge zu verstehen, ja sie vorwegzunehmen. Wir arbeiteten eine Nacht durch, allein in unserem großen Dienstzimmer im Ministerium desInnern, den Kaffee schlürfend, den uns eine schläfrige Ordonnanz brachte, und legten gemeinsam die großen Linien des Projekts fest. Von Rizzis Konzept ausgehend, nahm ich eine Unterscheidung zwischen qualifizierten und nicht qualifizierten Arbeitern vor: Alle Rationen sollten erhöht werden, aber die der nicht qualifizierten Arbeiter nur ein wenig, während für die qualifizierten Arbeiter eine ganze Reihe neuer Vergünstigungen vorgesehen waren. Wir nahmen in dem Projekt keine Rücksicht auf die verschiedenen
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