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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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hoffte, was ich behalten hätte. Gegen halb sechs betrat der Reichsführer die Bühne. Seine kleine Gestalt wurde auf dem hohen Podium von blutroten Fahnen und den schwarzen Helmen der Ehrenwache eingerahmt; hinter den hohen Röhren der Mikrofone verschwand sein Gesicht fast, und auf seiner Brille spielten die Lichter im Saal. Die Lautsprecher verliehen seiner Stimme einen stark metallischen Klang. Über die Reaktionen der Anwesenden habe ich bereits gesprochen; ich bedauerte, ganz hinten im Saal zu sitzen, sodass ich nur die Nacken und nicht die Gesichter im Blickhatte. Trotz meines Schreckens und der Überraschung muss ich hinzufügen, dass mich einige seiner Worte persönlich berührten, vor allem diejenigen, die sich mit den Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Menschen beschäftigten, die sie auszuführen hatten, mit der Gefahr, die sie liefen, roh zu werden, herzlos zu werden und menschliches Leben nicht mehr zu achten oder weich zu werden und durchzudrehen bis zu Nervenzusammenbrüchen – der Weg zwischen Scylla und Charybdis ist entsetzlich schmal , ja, das kannte ich gut, diese Worte hätten an mich gerichtet sein können, und bis zu einem gewissen Grade, das möchte ich in aller Bescheidenheit behaupten, waren sie es auch, an mich und all diejenigen, die wie ich schwer an dieser schrecklichen Verantwortung trugen, an uns von unserem Reichsführer, der sehr genau verstand, was wir durchmachten. Nicht, dass er sich die geringste Sentimentalität gestattet hätte; daran ließ die brutale Deutlichkeit am Ende seiner Rede keine Zweifel: Viele werden weinen, das macht aber nichts, denn es wird sehr viel geweint , Worte, die in meinen Ohren einen geradezu Shakespeare’schen Klang hatten, vielleicht stammten sie aber auch aus jener anderen Rede, die ich später gelesen habe, ich bin mir nicht sicher, egal. Hinterher, es dürfte so gegen neunzehn Uhr gewesen sein, lud uns Reichsleiter Bormann zu einem Buffet im benachbarten Saal ein. Die Würdenträger, vor allem die dienstältesten Gauleiter, nahmen die Bar im Sturm; da ich noch mit dem Reichsführer reisen musste, verzichtete ich auf Alkohol. Ich entdeckte ihn in einer Ecke, er stand dort mit Bormann, Goebbels und Leland vor Mandelbrod; er kehrte dem Saal den Rücken zu und schenkte der Wirkung, die seine Worte hervorgerufen hatten, nicht die geringste Beachtung. Die Gauleiter tranken ein Glas nach dem anderen und diskutierten mit gedämpfter Stimme; von Zeit zu Zeit bellte einer von ihnen einen Gemeinplatz, woraufhin seine Kameraden feierlich nickten und noch mehr tranken. Ichmuss gestehen, dass ich, obwohl von der Rede beeindruckt, mehr mit der kleinen Szene vom Mittag beschäftigt war: Ich begriff, dass Mandelbrod mich lancieren wollte, aber wie und um wen es dabei ging, war mir noch nicht klar; ich wusste zu wenig über seine Beziehungen zum Reichsführer oder auch zu Speer, um das beurteilen zu können, und das beunruhigte mich, denn ich merkte, dass ich diesem Einsatz nicht gewachsen war. Ich fragte mich, ob mich Hilde oder Hedwig hätten aufklären können; gleichzeitig wusste ich nur zu gut, dass sie mir nichts verraten hätten, selbst im Bett nicht, was Mandelbrod mir vorzuenthalten gedachte. Und Speer? Lange Zeit glaubte ich, mich zu erinnern, allerdings ohne darüber nachzudenken, dass ich auch ihn bei diesem Imbiss mit dem Reichsführer hätte diskutieren sehen. Doch eines Tages, es ist schon einige Zeit her, las ich in einem Buch, dass er seit Jahren energisch bestritt, dort gewesen zu sein, dass er vielmehr behauptete, um die Mittagszeit mit Rohland den Saal verlassen zu haben und während der Rede des Reichsführers nicht anwesend gewesen zu sein. Ich kann dazu lediglich sagen, dass es möglich sein könnte: Ich jedenfalls habe nach unserer kurzen Unterredung beim Mittagsempfang nicht mehr sonderlich auf ihn geachtet, sondern meine Aufmerksamkeit vor allem auf Dr. Mandelbrod und den Reichsführer gerichtet, und dann waren wirklich viele Leute da; trotzdem glaube ich, ihn am Abend gesehen zu haben, und er selbst beschreibt die hemmungslose Sauferei der Gauleiter, an deren Ende mehrere von ihnen, laut seinem eigenen Buch, in den Sonderzug getragen werden mussten; in dem Augenblick war ich schon mit dem Reichsführer gegangen, das habe ich also nicht mit eigenen Augen gesehen, aber er beschreibt es, als sei er dabei gewesen, es ist also schwer zu sagen, in jedem Falle handelt es sich um eine ziemlich überflüssige Spitzfindigkeit: Ob er nun an

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