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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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mein Sofa zurücksinken, um der Musik zu lauschen, und vergaß alles andere.
    Allerdings tauchte jetzt immer häufiger ein neuer Gedanke in meinem Bewusstsein auf. Am Sonntag nach den Bombenangriffen hatte ich gegen Mittag das Auto aus der Fahrbereitschaft geholt und war zu Helene Anders gefahren. Es war kalt und feucht, der Himmel bedeckt, aber es regnete nicht. Unterwegs war es mir gelungen, einen Blumenstrauß aufzutreiben, eine alte Frau hatte ihn mir auf der Straße in der Nähe einer S-Bahn-Station verkauft. Als ich zu Helenes Mietshaus kam, wurde mir klar, dass ich nicht wusste, in welcher Wohnung sie wohnte. Ihr Name stand auf keinem der Briefkästen. In diesem Augenblick trat eine ziemlich beleibte Frau aus der Haustür, blieb stehen, musterte mich von Kopf bis Fuß und fragte mich, kräftig berlinernd: »Wen suchen Sie?« – »Fräulein Anders.« – »Anders? Anders gibt’s hier nicht.« Ich beschrieb sie. »Ach, Sie meinen die Tochter von Winnefelds. Sie ist aber kein Fräulein.« Sie zeigte mir die Wohnung, ich stieg hinauf und klingelte. Eine weißhaarige Dame öffnete die Tür und sah mich fragend an. »Frau Winnefeld?« – »Ja.« Ich schlug die Hacken zusammen und machte eine knappe Verbeugung. »Meine Verehrung, gnädige Frau.Ich möchte Ihre Tochter besuchen.« Ich reichte ihr die Blumen und stellte mich vor. Helene erschien im Flur, einen Pullover über den Schultern, sie errötete leicht und lächelte: »Oh! Sie sind es.« – »Ich wollte fragen, ob Sie vorhaben, heute schwimmen zu gehen?« – »Ist die Schwimmhalle denn noch offen?«, fragte sie. »Leider nicht.« Ich war auf dem Hinweg an ihr vorbeigefahren: Eine Brandbombe hatte das Hallendach durchschlagen, und der Hausmeister, der die Ruine bewachte, hatte mir versichert, dass sie angesichts der vielen dringlicheren Aufgaben sicherlich nicht vor Kriegsende wieder geöffnet sein würde. »Aber ich kenne eine andere.« – »Dann sehr gerne. Ich hole meine Sachen.« Unten ließ ich sie einsteigen und fuhr los. »Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind«, sagte ich nach einer Weile. Sie sah mich nachdenklich an: »Ich bin Witwe. Mein Mann wurde im letzten Jahr in Jugoslawien von Partisanen getötet. Wir waren noch kein Jahr verheiratet.« – »Wie schrecklich!« Sie blickte zum Fenster hinaus. »Ja«, sagte sie und wandte sich mir zu: »Aber das Leben geht weiter, nicht wahr?« Ich sagte nichts. »Hans, mein Mann«, sagte sie wieder, »mochte die dalmatinische Küste sehr. In seinen Briefen sprach er davon, dass wir nach dem Krieg dorthin ziehen würden. Kennen Sie Dalmatien?« – »Nein, ich habe in der Ukraine und Russland Dienst getan. Aber dahin würde ich bestimmt nicht ziehen.« – »Und wo möchten Sie gern leben?« – »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Nicht in Berlin, glaube ich. Ich weiß es nicht.« Ich erzählte ihr kurz von meiner Kindheit in Frankreich. Sie selbst stammte aus einer alten Berliner Familie: Schon ihre Großeltern hatten in Moabit gewohnt. Wir kamen in die Prinz-Albrecht-Straße, und ich hielt vor der Nummer 8. »Aber das ist ja die Gestapo!«, rief sie erschrocken aus. Ich lachte: »Aber ja. Es gibt hier ein kleines geheiztes Schwimmbad im Keller.« Sie starrte mich an: »Sind Sie Polizist?« – »Nein, keineswegs.« Durch das Fenster zeigte ich ihr dasPrinz-Albrecht-Palais nebenan: »Ich arbeite dort, in der Dienststelle des Reichsführers. Ich bin Jurist und befasse mich mit Wirtschaftsfragen.« Das schien sie zu beruhigen. »Keine Sorge. Das Schwimmbad wird mehr von den Schreibkräften und Sekretärinnen benutzt als von den Polizisten; die haben anderes zu tun.« Tatsächlich war das Becken so klein, dass man sich vorher anmelden musste. Wir stießen dort auf Thomas, der schon in Badehose war. »Wir kennen uns doch!«, rief er aus und beugte sich galant über Helenes weiße Hand. »Sie sind doch die Freundin von Liselotte und Minna Wehde.« Ich zeigte ihr die Umkleideräume für Damen und ging mich umziehen, während Thomas anzüglich grinste. Als ich wieder zurückkam, war Thomas im Wasser und unterhielt sich mit einem Mädchen. Helene war noch nicht da. Ich sprang ins Wasser und absolvierte einige Bahnen. Dann kam Helene aus den Umkleideräumen. Ihr modisch geschnittener Badeanzug unterstrich ihre vollen und zugleich schlanken Formen; trotz aller Weiblichkeit zeichneten sich die Muskeln deutlich ab. Ihr Gesicht, dessen Schönheit die Badekappe nicht beeinträchtigen konnte, strahlte

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