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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Erkundigungen hingeschickt hatte, berichtete, der Luftschutzkeller des Gebäudes sei am Dienstagabend getroffen worden. Die Zahl der Toten wurde auf hundertdreiundzwanzig geschätzt, alle Bewohner des Hauses; es gab keine Überlebenden, doch die Mehrzahl der geborgenen Toten war unkenntlich. Um mein Gewissen zu beruhigen, ließ ich Walser als vermisst melden: So würde die Polizei in den Krankenhäusern nach ihm suchen; aber ich hatte wenig Hoffnung, ihn lebend wiederzufinden. Piontek schien es sehr mitzunehmen. Thomas hatte seine schwermütige Anwandlung überwunden und barst vor Energie; da wir nun wieder Büronachbarn waren, sahen wir uns häufiger. Statt ihm von meiner Beförderung zu berichten, wollte ich ihn überraschen und wartete, bis ich die Urkunde hatte und meine neuen Kragenspiegel aufgenäht waren. Als ich mich so in seinem Dienstzimmer präsentierte, begann er laut zu lachen, kramte auf seinem Schreibtisch herum, zog ein Blatt Papier hervor, wedelte damit in der Luft herum und rief: »Ha, Elender! Und du glaubst, du hast mich eingeholt?« Er faltete ein Flugzeug aus dem Schreiben und warf es in meine Richtung; die Nase stieß gegen mein Eisernes Kreuz. Ich entfaltete es und las, dass Müller Thomas’ Beförderung zum Standartenführer vorschlug. »Und du kannst sicher sein, dass es nicht abgelehnt wird. Aber«, fügte er großmütig hinzu, »bevor es nicht offiziell ist, gehen die Abendessen auf mich.«
    Von meiner Beförderung zeigte sich das unerschütterliche Fräulein Praxa zwar ebenso wenig beeindruckt, doch als sie einen persönlichen Anruf von Speer entgegennahm, konnte selbst sie ihre Verblüffung nicht verbergen: »Der Herr Reichsminister Speer möchte Sie sprechen«, sagte sie mit bewegterStimme und reichte mir den Hörer. Nach dem letzten Fliegerangriff hatte ich ihm eine Nachricht mit allen Angaben über meine neue Dienstadresse zukommen lassen. »Sturmbannführer?«, hörte ich seine sichere angenehme Stimme sagen. »Wie geht es Ihnen? Große Schäden?« – »Mein Archivar ist höchstwahrscheinlich ums Leben gekommen, Herr Minister. Ansonsten geht es. Und bei Ihnen?« – »Ich habe provisorische Diensträume bezogen und meine Familie aufs Land geschickt. Nun, was gibt’s?« – »Ihr Besuch von Mittelbau ist genehmigt, Herr Minister. Ich bin beauftragt worden, ihn zu organisieren. Sobald wie möglich setze ich mich mit Ihrer Sekretärin in Verbindung, um einen Termin abzusprechen.« Speer hatte mich gebeten, in wichtigen Fragen keinen seiner Assistenten, sondern seine persönliche Sekretärin anzurufen. »Sehr schön«, sagte er. »Auf bald.« Ich hatte bereits an Mittelbau geschrieben und um Vorbereitung der Besichtigung gebeten. Nun telefonierte ich mit Obersturmbannführer Förschner, dem Kommandanten von Mittelbau-Dora, um die Vereinbarungen zu bestätigen. »Hören Sie«, sagte er erschöpft und mit mürrischer Stimme am anderen Ende der Leitung, »wir tun unser Bestes.« – »Ich verlange von Ihnen nicht, Ihr Bestes zu tun, Obersturmbannführer. Ich verlange, dass sich die Einrichtungen beim Besuch des Reichsministers in einem vorzeigbaren Zustand befinden. Das hat der Reichsführer persönlich befohlen. Haben Sie mich verstanden?« – »Schon gut. Ich werde alles Nötige veranlassen.«
    Meine Wohnung war wieder einigermaßen hergerichtet. Nach langem Suchen hatte ich Glas für zwei Fenster bekommen; die anderen blieben mit Wachsplanen verschlossen. Meine Nachbarin hatte nicht nur die Tür reparieren lassen, sondern auch Petroleumlampen aufgetrieben – bis die Stromleitungen wieder repariert sein würden. Ich hatte Kohle liefern lassen, und nachdem ich den großen Kachelofen in Gang gebracht hatte, war es auch nicht mehr kalt. Ich sagte mir, dasses nicht besonders schlau gewesen war, mir eine Wohnung im obersten Stockwerk zu nehmen: Ich hatte unglaubliches Glück gehabt, von den Angriffen dieser Woche verschont geblieben zu sein, aber wenn sie sich wiederholten – und das würde bestimmt der Fall sein –, würde sich das sicherlich ändern. Im Grunde weigerte ich mich, mir Sorgen zu machen: Die Wohnung gehörte mir nicht, und ich hatte nur wenig persönlichen Besitz; es galt, diesen Dingen gegenüber Thomas’ heiter gelassene Einstellung zu bewahren. Ich kaufte mir nur ein neues Grammofon und Platten mit Bach-Partiten und Arien aus Monteverdi-Opern. Am Abend, im milden altertümlichen Schein einer Öllampe, ein Glas Kognak und Zigaretten in Reichweite, ließ ich mich in

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