Die Wohlgesinnten
führte Thomas mich in ein kleines Restaurant, das seine Tore schon wieder geöffnet hatte. Er war bester Laune: Schellenberg hatte ihm ein kleines Häuschen in Dahlem besorgt, einer noblen Gegend nahe dem Grunewald, und er würde ein kleines Mercedes-Kabriolett von der Witwe eines beim ersten Fliegerangriff ums Leben gekommenen Hauptsturmführers kaufen, die Geld brauchte. »Glücklicherweise steht meine Bank noch. Das ist alles, was zählt.« Ich sah ihn entrüstet an: »Da gibt es doch wohl noch ein paar Sachen mehr, die zählen.« – »Und die wären?« – »Unsere Opfer. Das Leid der Menschen hier bei uns und an der Front.« In Russland sah es schlimm aus: Nach dem Verlust von Kiew war es uns zwar gelungen, Shitomir zurückzuerobern,aber nur, um an dem Tag, an dem ich mit Speer auf Auerhahnjagd war, Tscherkassy zu verlieren; in Rowno schossen die ukrainischen Aufständischen, die so antideutsch wie antibolschewistisch waren, unsere Landser einzeln wie die Hasen ab. »Ich sag’s dir immer, Max«, meinte Thomas, »du nimmst alles viel zu ernst.« – »Das ist eine Frage der Weltanschauung«, erwiderte ich und hob mein Glas. Thomas lachte spöttisch auf. »Weltanschauung hier, Weltanschauung da, oder so ähnlich hat Schnitzler gesagt. Alle haben heutzutage eine Weltanschauung, jeder kleine Bäcker oder Klempner hat seine Weltanschauung, mein Autoschlosser schlägt mir auf jede Reparaturrechnung 30 Prozent drauf, aber auch er hat seine Weltanschauung. Ich habe auch eine …« Er schwieg und trank; ich trank ebenfalls. Ein bulgarischer Wein, etwas herb, aber angesichts der Umstände durchaus annehmbar. »Ich werd dir sagen, was zählt«, fuhr Thomas zornig fort. »Deinem Land dienen, sterben, wenn es sein muss, aber bis dahin das Leben nach Kräften genießen. Dein posthum verliehenes Ritterkreuz lindert vielleicht den Schmerz deiner alten Mutter, aber für dich ist es ein schwacher Trost.« – »Meine Mutter ist tot«, sagte ich leise. »Ich weiß. Entschuldige.« Eines Abends, nach einigen Gläsern, hatte ich ihm vom Tod meiner Mutter erzählt, ohne allzu sehr auf die Einzelheiten einzugehen; seither hatten wir nicht mehr davon gesprochen. Thomas trank einen Schluck, dann wetterte er abermals los: »Weißt du, warum die Juden so verhasst sind? Ich werde es dir sagen. Die Juden sind verhasst, weil sie ein sparsames und vorsichtiges Volk sind, das geizig ist nicht nur mit Geld und Vermögen, sondern auch mit seinen Traditionen, seinem Wissen und seinen Büchern, unfähig zum Schenken und Geben, ein Volk, das keinen Krieg kennt. Ein Volk, das immer nur raffen und nie verschwenden kann. In Kiew hast du gesagt, der Mord an den Juden sei eine Vergeudung. Genau das ist es: Indem wir ihr Leben vergeuden, wieman den Reis bei einer Hochzeit wirft, haben wir sie die Verschwendung gelehrt, ihnen den Krieg beigebracht. Und der Beweis, dass das klappt, dass die Juden anfangen, die Lektion zu kapieren, ist Warschau, ist Treblinka, Sobibor, Biaystok, ist die Tatsache, dass die Juden wieder Krieger werden, wieder grausam werden, ebenfalls das Töten anfangen. Ich finde das schön. Da haben wir uns in ihnen wieder einen Feind erschaffen, der unserer würdig ist. Der Pour le Sémite « – er schlug sich in der Gegend des Herzens auf die Brust, dort, wo der Stern aufgenäht wird – »gewinnt an Wert. Und wenn die Deutschen statt zu jammern sich nicht aufraffen wie die Juden, kriegen sie nur, was sie verdienen. Vae victis. « Er leerte sein Glas in einem Zug, den Blick in die Ferne gerichtet, er war betrunken. »So, ich fahr nach Haus«, sagte er. Ich bot ihm an, ihn zu fahren, aber er lehnte ab: Er hatte sich einen Wagen der Fahrbereitschaft genommen. Auf der nur halb geräumten Straße reichte er mir zerstreut die Hand, knallte die Tür zu und verschwand mit quietschenden Reifen. Ich kehrte zu meinem Schlafplatz bei der Geheimen Staatspolizei zurück; dort war geheizt, und wenigstens die Duschen waren wieder instand gesetzt worden.
Am nächsten Abend erfolgte ein neuer Fliegerangriff, der fünfte und letzte dieser Serie. Die Schäden waren entsetzlich: Das Stadtzentrum war ein einziges Trümmerfeld, ebenso ein Großteil des Weddings, die Zahl der Toten wurde auf mehr als 4000, die der Ausgebombten auf 400 000 beziffert, viele Fabriken und mehrere Ministerien waren zerstört, es würde Wochen dauern, bis die Fernsprechverbindungen und öffentlichen Verkehrsmittel wiederhergestellt wären. Die Menschen lebten in Wohnungen ohne
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