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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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erschreckte.

 
     
    Doch wenn die Vergangenheit erst einmal die Zähne in euer Fleisch geschlagen hat, lässt sie euch nicht mehr los. Gegen Mitte der Woche, die auf die Fliegerangriffe folgte, klopfte Fräulein Praxa an die Tür meines Dienstzimmers. »HerrObersturmbannführer? Da sind zwei Herren von der Kripo, die Sie sprechen möchten.« In eine besonders unübersichtliche Akte vertieft, antwortete ich ungehalten: »Dann sollen sie sich gefälligst einen Termin geben lassen, wie alle anderen auch.« – »Wie Sie wünschen, Herr Obersturmbannführer.« Sie schloss die Tür. Eine Minute später klopfte sie wieder: »Entschuldigen Sie, Herr Obersturmbannführer. Sie lassen sich nicht abweisen. Ich soll Ihnen sagen, dass es sich um eine persönliche Angelegenheit handelt. Es geht um Ihre Mutter.« Ich atmete tief durch und schloss meine Akte: »Dann lassen Sie sie eintreten.«
    Die beiden Männer, die sich in mein Dienstzimmer schoben, waren echte Polizisten, keine Edelpolizisten wie Thomas. Sie trugen lange graue Mäntel aus derber, grober Wolle, offenbar mit Holzschliff gestreckt, und hielten ihre Hüte in der Hand. Sie zögerten, dann hoben sie den Arm und sagten: »Heil Hitler!« Ich erwiderte ihren Gruß und bat sie, sich aufs Sofa zu setzen. Sie stellten sich vor: Kriminalkommissar Clemens und Kriminalkommissar Weser, vom Referat V B 1, »Kapitalverbrechen«. »Eigentlich«, sagte einer der beiden einleitend, wohl Clemens, »sind wir auf Antrag des Referats V A 1 tätig geworden, das für die internationale Zusammenarbeit zuständig ist. Es liegt ein Rechtshilfeersuchen der französischen Polizei vor …« – »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich ihn unwirsch, »darf ich Ihre Papiere sehen?« Sie reichten mir ihre Ausweise sowie eine Dienstanweisung, die von einem Regierungsrat Galzow unterzeichnet war und sie beauftragte, die Fragen zu beantworten, die der deutschen Justiz vom Präfekten des Departements Alpes-Maritimes im Rahmen der Ermittlungen zum Mordfall Moreau, Aristide, und seiner Ehefrau Moreau, Héloïse, verwitweter Aue, geborener C., übermittelt worden waren. »Sie untersuchen also den Tod meiner Mutter«, sagte ich und gab ihnen die Papiere zurück. »Wieso interessiert das die deutsche Polizei? Siesind in Frankreich getötet worden.« – »Vollkommen richtig, vollkommen richtig«, sagte der zweite, offenbar Weser. Der erste zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. »Das war anscheinend ein sehr gewalttätiger Mord«, sagte er. »Vielleicht ein Wahnsinniger, ein Sadist. Sie müssen sehr erschüttert gewesen sein.« Meine Stimme blieb kalt und unfreundlich: »Hören Sie, Herr Kommissar, ich weiß, was geschehen ist. Meine persönlichen Reaktionen gehen Sie nichts an. Was wünschen Sie also?« – »Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Weser. »Als möglichem Zeugen«, fügte Clemens hinzu. »Zeugen für was?«, fragte ich. Er sah mir in die Augen: »Sie sind zum betreffenden Zeitpunkt dort gewesen, nicht wahr?« Ich erwiderte seinen Blick: »Das stimmt. Sie sind gut unterrichtet. Ich war zu Besuch bei ihnen. Ich weiß nicht genau, wann sie umgebracht wurden, aber es muss kurz danach gewesen sein.« Clemens zog sein Notizbuch zu Rate, dann zeigte er es Weser. Der sagte: »Nach Auskunft der Gestapo Marseille wurde Ihnen am 26. April ein Passierschein für die italienische Zone ausgestellt. Wie lange sind Sie bei Ihrer Mutter geblieben?« – »Nur einen Tag.« – »Sind Sie sicher?«, fragte Clemens. »Ich denke doch. Warum?« Weser schaute wieder in Clemens’ Notizbuch: »Laut der französischen Polizei hat ein Gendarm am Morgen des 29. einen SS-Offizier Antibes im Bus verlassen sehen. Damals waren nicht viele SS-Offiziere in dem Abschnitt, und die sind bestimmt nicht in Bussen durch die Gegend gefahren.« – »Kann sein, dass ich zwei Nächte geblieben bin. Ich bin damals viel gereist. Ist das wichtig?« – »Vielleicht. Die Leichen sind am 1. Mai entdeckt worden, von einem Milchmann. Sie waren schon eine Zeitlang tot. Nach Schätzung des Gerichtsmediziners lag der Mord sechzig bis vierundachtzig Stunden zurück, der Tod muss also zwischen dem Abend des 28. und dem Abend des 29. eingetreten sein.« – »Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass sie noch sehr munterwaren, als ich sie verließ.« – »Wenn Sie also am Morgen des 29. abgefahren sind«, sagte Clemens, »dann müssen sie im Laufe desselben Tages getötet worden sein.« – »Möglich, die Frage habe ich

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