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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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»Genau«, wiederholte Weser, »das ist alles. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.« Ich gab ihnen die Hand: »Ich bitte Sie. Sollten Sie noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit wieder an mich wenden.« Ich nahm zwei Visitenkarten aus einer Schale und reichte sie ihnen. »Danke«, sagte Weser und steckte sie ein. Clemens studierte die seine: » Sonderbeauftragter des Reichsführers SS für den Arbeitseinsatz «, las er. »Was ist das?« – »Ein Staatsgeheimnis, Herr Kommissar«, erwiderte ich. »Oh, Verzeihung.« Die beiden grüßten und gingen zur Tür. Clemens, gut einen Kopf größer als Weser, öffnete sie und ging hinaus; Weser blieb in der Tür stehen und wandte sich noch einmal um: »Entschuldigen Sie, Herr Obersturmbannführer. Ich habe eine Kleinigkeit vergessen.« Nach draußen gewandt, rief er: »Clemens! Das Notizbuch!« Wieder blätterte er darin: »Ach ja, hier: Als Sie bei Ihrer Mutter zu Besuch waren, haben Sie da Uniform oder Zivil getragen?« – »Daran erinnere ich mich nicht. Warum? Ist das wichtig?« – »Sicher nicht. Der Obersturmführer in Marseille, der Ihnen den Passierschein ausgestellt hat, meinte, Sie seien in Zivil gewesen.« – »Möglich. Ich hatte Urlaub.« Er nickte bedächtig: »Danke. Wenn es noch etwas gibt, rufen wir Sie an. Entschuldigen Sie, dass wir so hereingeplatzt sind. Das nächste Mal lassen wir uns einen Termin geben.«
    Dieser Besuch hinterließ bei mir einen schlechten Nachgeschmack. Was wollten diese beiden Karikaturen? Sie warenmir sehr aggressiv, sehr glatt vorgekommen. Gewiss, ich hatte sie belogen: Aber wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich die Leichen gesehen hatte, hätte das alle möglichen Komplikationen gegeben. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mich in diesem Punkt verdächtigten; ihr Verdacht schien eher systematischer Natur zu sein, vermutlich ein Berufsfehler. Als äußerst widerwärtig hatte ich ihre Fragen zu Moreaus testamentarischen Verfügungen empfunden: Sie schienen andeuten zu wollen, dass ich ein Motiv, ein finanzielles Interesse gehabt haben könnte, das war grotesk. War es möglich, dass sie mich des Mordes verdächtigten? Ich versuchte, das Gespräch zu rekonstruieren, und musste einsehen, dass es möglich war. Ich fand das erschreckend, aber der Polizistenverstand war wohl so beschaffen. Eine andere Frage setzte mir allerdings noch mehr zu: Warum hatte meine Schwester die Zwillinge mitgenommen? Was für eine Beziehung gab es zwischen ihnen und ihr? Ich muss gestehen, dass mich das alles sehr beunruhigte. Ich empfand es fast als ungerecht: Ausgerechnet in dem Augenblick, da mein Leben endlich eine Art Gleichgewicht zu finden schien, da sich ein Gefühl der Normalität einstellen wollte, fast wie bei anderen Menschen, begannen diese schwachköpfigen Polizisten alte Geschichten aufzuwärmen, Unruhe zu stiften, Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gab. Am vernünftigsten wäre es gewesen, meine Schwester anzurufen oder ihr zu schreiben, um sie zu fragen, was mit diesen verflixten Zwillingen war, und auch um sicherzugehen, dass ihre Aussage, falls diese Polizisten sie jemals befragen sollten, nicht in den Punkten, bei denen ich es vorgezogen hatte, einen Teil der Wahrheit zu verschweigen, von meiner Darstellung abwich. Doch ohne zu wissen, warum eigentlich, tat ich es nicht sofort; nicht, dass mich etwas zurückgehalten hätte, ich hatte einfach keine Lust, mich zu beeilen. Telefonieren war kein Problem, ich konnte es tun, wann ich Lust hatte, kein Grund zur Eile.
    Außerdem war ich sehr beschäftigt. Meine Gruppe in Oranienburg, die sich unter Asbachs Leitung ständig vergrößerte, schickte mir regelmäßig Zusammenfassungen ihrer Untersuchungen über die Verwendung von Fremdarbeitern, den Ausländereinsatz , wie die offizielle Bezeichnung lautete. Diese Arbeiter wurden nach rassischen Kriterien in zahlreiche Kategorien unterteilt und unterschiedlichen Behandlungen unterworfen; dazu zählten auch Kriegsgefangene aus westlichen Ländern (aber keine sowjetischen Kriegsgefangenen, die bildeten eine eigene Kategorie und waren ausschließlich dem OKW unterstellt). Am Tag nach dem Besuch der beiden Kriminalbeamten wurde ich zum Reichsführer einbestellt, der sich für das Thema interessierte. Ich erstattete ihm einen ziemlich umständlichen – schließlich war das Problem kompliziert –, aber vollständigen Bericht: Der Reichsführer lauschte, fast ohne ein Wort zu sagen, unergründlich hinter seinen kleinen stahlgefassten

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