Die Wohlgesinnten
Brillengläsern. Gleichzeitig musste ich Speers Besuch in Mittelbau vorbereiten, und ich fuhr nach Lichterfelde – seit den Fliegerangriffen von bösen Berliner Zungen Trichterfelde genannt –, um mir das Projekt von Brigadeführer Kammler, dem Chef der Amtsgruppe C (»Bauwesen«) des WVHA, erläutern zu lassen. Kammler, ein kurz angebundener nervöser Mann, dessen rasche Sprechweise und Gestik einen unbeugsamen Willen verbargen, berichtete mir – und es war das erste Mal, dass ich dazu etwas anderes als Gerüchte vernahm – vom Aggregat 4, einer Rakete und Wunderwaffe, die nach seinen Worten den Verlauf des Krieges unwiderruflich verändern würde, sobald sie serienmäßig hergestellt werden könnte. Die Engländer hatten Wind von ihrer Existenz bekommen und im August die geheimen Anlagen bombardiert, in denen sie entwickelt worden war – im Norden Usedoms, der Insel, auf der ich nach meiner Verwundung gesund gepflegt worden war. Drei Wochen später schlug der Reichsführer dem Führer undSpeer vor, die Anlagen unter die Erde zu verlegen und die Geheimhaltung dadurch zu sichern, dass er ausschließlich Häftlinge aus Konzentrationslagern einsetzte. Kammler hatte den Standort persönlich ausgesucht, unterirdische Stollen im Harz, die von der Wehrmacht für die Lagerung von Treibstoffvorräten genutzt wurden. Unter der Ägide von Speers Ministerium war zur Durchführung des Projekts eine eigene Gesellschaft gegründet worden, die Mittelwerke GmbH; trotzdem blieben Einrichtung und Sicherheit der Anlage ausschließlich in der Verantwortung der SS. »Die Montage der Raketen hat bereits begonnen, auch wenn die Arbeiten an der Fertigungsanlage noch nicht ganz abgeschlossen sind; der Reichsminister dürfte zufrieden sein.« – »Ich kann nur hoffen, dass die Arbeitsbedingungen der Häftlinge angemessen sind, Brigadeführer«, erwiderte ich. »Ich weiß, dass der Reichsminister größten Wert darauf legt.« – »Die Bedingungen sind, wie sie sind, Obersturmbannführer. Schließlich haben wir Krieg. Aber ich darf Ihnen versichern, dass der Minister keinen Grund zur Klage haben wird, was die Produktivität angeht. Das Werk steht unter meinem persönlichen Befehl, und ich habe selbst den Kommandanten ausgewählt, einen tüchtigen Mann. Auch das RSHA macht mir keine Probleme: Ich habe einen meiner Männer abgestellt, Dr. Bischoff, der über die Produktionssicherung wacht und der Sabotage vorbeugt. Bis jetzt hat es keinen Ärger gegeben. Auf jeden Fall«, fügte er hinzu, »habe ich im April und Mai mit Mitarbeitern von Minister Speer mehrere KL inspiziert; sie hatten keine Klagen, und Mittelbau kann allemal mit Auschwitz mithalten.«
Der Besuch fand an einem Freitag im Dezember statt. Es herrschte schneidende Kälte. Speer ließ sich von Fachleuten seines Ministeriums begleiten. Sein Sonderflugzeug, eine Heinkel, brachte uns bis Nordhausen; dort erwartete uns eine Abordnung des Lagers unter Führung des KommandantenFörschner, die uns zur Produktionsstätte geleitete. Die von mehreren Kontrollstellen der SS abgeriegelte Straße führte am Südhang des Harzes entlang; Förschner erläuterte uns, das ganze Massiv sei zur Sperrzone erklärt worden, da etwas weiter nördlich, in Nebenlagern von Mittelbau, auch andere unterirdische Projekte in Angriff genommen worden seien; in Dora selbst würden im Nordteil der beiden Tunnel Junkers-Motoren gebaut. Speer hörte sich seine Ausführungen wortlos an. Die Straße mündete auf einem großen ungepflasterten Platz; auf der einen Seite reihten sich die Baracken der SS-Wachen und der Kommandantur; gegenüber, durch Stapel von Baumaterial versperrt, von Tarnnetzen und einem mit Tannen bepflanzten Kamm verdeckt, gähnte der Eingang des ersten Tunnels. Dort gingen wir hinter Förschner und mehreren Ingenieuren der Mittelwerke in den Berg hinein. Der Gipsstaub und der beißende Rauch der Industriesprengstoffe legten sich mir auf die Brust; damit vermischt, schlugen uns andere, undefinierbare Gerüche entgegen, süß und ekelerregend, die mich an meine ersten Lagerbesuche erinnerten. Wo wir hinkamen, hatten sich die Häftlinge auf Anordnung des Spießes, der der Abordnung voranging, in Grundstellung aufgebaut und rissen ihre Käppis herunter. Die meisten waren schrecklich abgemagert; ihre Köpfe, die prekär auf den dürren Hälsen balancierten, ähnelten scheußlichen, mit riesigen Pappnasen und -ohren verzierten Kugeln, in die riesige, leere Augen eingedrückt waren, die sich weigerten,
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