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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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einen anzublicken. In ihrer Nähe wurden die Gerüche, die ich schon am Eingang bemerkt hatte, zu einem widerlichen Gestank, der aus ihrer besudelten Kleidung, aus ihren Wunden, aus ihren Leibern selbst aufstieg. Mehrere von Speers Leuten, grün im Gesicht, hielten sich Taschentücher vor Mund und Nase; Speer hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und begutachtete alles mit verschlossener, angespannter Miene. Die beiden Haupttunnel A und B wurden alle fünfundzwanzigMeter durch Querstollen miteinander verbunden: In dem ersten entdeckten wir rohe Holzpritschen, vierfach übereinander, eine wimmelnde, zerlumpte Schar von Häftlingen stürzte sich unter den Knüppelschlägen eines SS-Unterführers herunter und baute sich in Habtachtstellung auf, die meisten nackt oder fast nackt, die Beine mit Scheiße beschmiert. Die rohen Betongewölbe schwitzten Feuchtigkeit aus. Vor den Pritschen, an der Kreuzung mit dem Haupttunnel, dienten große, der Länge nach durchgeschnittene Metallfässer als Latrinen; fast zum Überlaufen waren sie mit einer stinkenden, klebrigen Flüssigkeit gefüllt, gelb, grün und braun. Einer von Speers Mitarbeitern rief aus: »Das ist ja Dantes Inferno!«; ein anderer blieb ein Stück zurück und kotzte gegen die Wand. Ich fühlte auch den alten Brechreiz wieder in mir aufsteigen, unterdrückte ihn aber und atmete pfeifend durch die Zähne, lang und tief. Speer wandte sich an Förschner: »Die Häftlinge leben hier?« – »Ja, Herr Minister.« – »Und kommen nie hinaus?« – »Nein, Herr Minister.« Im Weitergehen erklärte Förschner Speer, dass es an allem fehle und er nicht imstande sei, für die erforderlichen hygienischen Bedingungen zu sorgen; Epidemien würden die Zahl der Häftlinge dezimieren. Er zeigte uns sogar einige Leichen, die am Eingang der Querstollen angehäuft waren, nackt oder unter einer Plane, menschliche Knochengerippe mit zerfressener Haut. In einem der Stollen-Schlafsäle wurde Suppe ausgegeben: Speer wollte kosten. Er probierte einen Löffel, dann ließ er mich ebenfalls kosten; ich musste mich zwingen, sie nicht wieder auszuspucken; eine bittere, widerliche Brühe; wie aus Unkraut gekocht; selbst am Boden des Topfes gab es praktisch keine festen Bestandteile. So besichtigten wir den Tunnel auf ganzer Länge bis zum Junkers-Werk, durch Schmutz und Unrat watend, mühsam atmend, inmitten Tausender Häftlinge, die, wenn wir sie passierten, nacheinander mechanisch die Käppis herunterrissen, mit vollkommen ausdruckslosenGesichtern. Ich betrachtete ihre Abzeichen: Neben den Deutschen, überwiegend »Grünen«, gab es noch »Rote« aus allen Ländern Europas: Franzosen, Belgier, Italiener, Holländer, Tschechen, Polen, Russen und sogar Spanier – Republikaner, die nach ihrer Niederlage in Frankreich interniert worden waren (aber natürlich keine Juden: zu dem Zeitpunkt war jüdischen Arbeitern das Reich noch verboten). In den Querstollen hinter den Schlafplätzen arbeiteten Häftlinge, von Zivilingenieuren beaufsichtigt, an den Bauteilen und der Montage von Raketen; ein Stück weiter grub ein wahres Ameisenheer unter ohrenbetäubendem Lärm und in undurchdringlichem Staub neue Stollen, und die Steine wurden von anderen Häftlingen in Loren auf eilig gelegten Schienen hinausgeschoben. Im Hinausgehen wollte Speer das Revier sehen; das war eine überaus behelfsmäßige Einrichtung, die höchstens etwa vierzig Männern Platz bot. Der Chefarzt zeigte ihm die Statistiken zur Mortalität und Morbidität: Vor allem Ruhr, Typhus und Tuberkulose wüteten verheerend. Draußen machte Speer seinem Zorn vor der gesamten Delegation Luft, beherrscht, aber heftig: »Obersturmbannführer Förschner! Diese Fabrik ist ein ungeheuerlicher Skandal! Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen. Wie können Sie erwarten, mit Männern in einem solchen Zustand vernünftige Arbeit zu leisten?« Förschner hatte, derart angegriffen, instinktiv Haltung angenommen. »Herr Minister«, erwiderte er, »ich bin ja bereit, die Verhältnisse zu verbessern, aber mir werden nicht die nötigen Mittel geliefert. Mich können Sie nicht dafür verantwortlich machen.« Speer war kreidebleich. »Sehr gut«, blaffte er. »Ich befehle Ihnen, hier draußen augenblicklich ein Lager errichten zu lassen, mit Duschen und anderen sanitären Einrichtungen. Lassen Sie auf der Stelle die erforderlichen Materialanforderungen ausfertigen, ich unterzeichne sie noch vor meiner Abfahrt.« Förschner führte uns in die

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