Die Wohlgesinnten
geringer zu sein. Vor ihrem Haus nahm sie meine Hand und küsste mich flüchtig auf die Wange: »Frohe Weihnacht! Auf bald.« Ich kehrte nach Dahlem zurück, wo ich mich betrank und die Nacht auf dem Teppich beendete, nachdem ich das Sofa einer Sekretärin überlassen hatte, die bekümmert hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie durch Liselotte aus dem Schlafzimmer des Hausherrn verdrängt worden war.
Einige Tage später suchten mich Clemens und Weser wieder auf, nachdem sie sich dieses Mal ordnungsgemäß von Fräulein Praxa, die sie augenrollend in mein Büro führte, einen Termin hatten geben lassen. »Wir haben versucht, mit Ihrer Schwester Verbindung aufzunehmen«, sagte Clemens, der Große, statt einer Begrüßung. »Aber sie ist nicht zu Hause.« – »Gut möglich«, sagte ich. »Ihr Ehemann ist invalide. Sie begleitet ihn häufig zur Kur in die Schweiz.« – »Wir haben die Botschaft in Bern gebeten, sie ausfindig zu machen«, sagte Weser boshaft und rollte seine schmalen Schultern vor und zurück. »Wir würden gern mit ihr sprechen.« – »Ist das so wichtig?«, fragte ich. »Da ist immer noch diese vertrackte Geschichte mit den kleinen Zwillingen«, Clemens rülpste es fast mit seinem groben Berliner Organ heraus. »Wir verstehen das nicht so recht«, fügte Weser mit schlauer Miene hinzu. Clemens holte sein Notizbuch heraus und las vor: »Die französische Polizei hat Nachforschungen angestellt.« – »Etwas spät«, unterbrach ihn Weser. »Ja, aber besser spät als nie. Anscheinend haben diese Zwillinge spätestens seit 1938, als sie in die Schule kamen, bei Ihrer Mutter gelebt. Ihre Mutter hat sie als verwaiste Großneffen ausgegeben. Und einige ihrer Nachbarn scheinen der Meinung zu sein, dass sie vielleicht schon früher gekommen sind, als Kleinkinder, 1936 oder 1937.« – »Ziemlich merkwürdig, das Ganze«, sagte Weser säuerlich. »Haben Sie sie nie vorher gesehen?« – »Nein«, antwortete ich unwirsch. »Aber das ist keineswegs merkwürdig. Ich habe meine Mutter nie besucht.« – »Nie?«, knurrte Clemens. »Nie?« – »Nie.« – »Bis auf dieses eine Mal«, zischte Weser, »wenige Stunden vor ihrem gewaltsamen Tod. Finden Sie das nicht auch merkwürdig?« – »Hören Sie, meine Herren«, gab ich zurück, »ich finde Ihre Unterstellungen ausgesprochen unangebracht. Ich weiß nicht, wo Sie Ihren Beruf erlernt haben, aber Ihre Haltung erscheint mir grotesk. Im Übrigen sind Sie ohne Anordnungdes SS-Gerichts überhaupt nicht befugt, gegen mich zu ermitteln.« – »Das stimmt, aber wir ermitteln nicht gegen Sie. Im Augenblick befragen wir Sie nur als Zeugen.« – »Ja«, wiederholte Weser, »als Zeugen, das ist alles.« – »Allerdings ist richtig«, ergriff Clemens wieder das Wort, »dass es viele Dinge gibt, die wir nicht verstehen, aber gerne verstehen würden.« – »Zum Beispiel diese Geschichte mit den Zwillingen«, fügte Weser hinzu. »Nehmen wir an, es wären wirklich Großneffen Ihrer Mutter …« – »Wir haben zwar keinen Hinweis auf Geschwister gefunden, aber nehmen wir es einmal an«, unterbrach Clemens. »Ach ja, wissen Sie etwas darüber?«, fragte Weser. »Worüber?« – »Ob Ihre Mutter einen Bruder oder eine Schwester hatte?« – »Ich habe von einem Bruder gehört, ihn aber nie kennengelernt. Wir haben das Elsass 1918 verlassen, und danach hat meine Mutter, soweit ich weiß, nie wieder Kontakt zu ihrer in Frankreich gebliebenen Familie gehabt.« – »Nehmen wir also an«, fuhr Weser fort, »es wären wirklich Großneffen. Wir haben keine Dokumente gefunden, die das beweisen, keine Geburtsurkunden, nichts.« – »Und Ihre Schwester«, sagte Clemens, jedes Wort scharf betonend, »hat keinerlei Papiere vorgelegt, als sie sie mitgenommen hat.« Weser lächelte pfiffig: »Für uns sind das potenzielle Zeugen, sehr wichtige Zeugen, die verschwunden sind.« – »Und wir wissen nicht, wohin«, sagte Clemens. »Es ist unverzeihlich, dass die französische Polizei sie so einfach hat gehen lassen.« – »Ja«, sagte Weser und blickte ihn an, »aber was passiert ist, ist passiert. Es hat keinen Zweck, darauf herumzureiten.« Unbeirrt fuhr Clemens fort: »Trotzdem, am Ende haben wir den ganzen Ärger.« – »Kurz und gut«, sagte Weser, an mich gewandt, »wenn Sie mit ihr sprechen, bitten Sie sie, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Ich meine, Ihre Schwester.« Ich nickte. Sie schienen nichts mehr zu sagen zu haben, ich beendete das Gespräch. Ich hatte noch immer
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