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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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runde Brille an wie eine Eule. Ich sah mich in ihren Gläsern doppelt gespiegelt, wegen des Reflexes konnte ich seinen Blick nicht erkennen. »Sie machen einen Fehler, Aue, einen großen Fehler. Aber es ist Ihre Entscheidung.«
    Ich verübelte Brandt diese Haltung, sie war meiner Ansicht nach völlig ungerechtfertigt: Er hatte sich nicht in mein Privatleben einzumischen. Und das nahm gerade jetzt eine angenehme Wende; es war lange her, dass ich so viel Zerstreuung gehabt hatte. Sonntags suchte ich mit Helene das Schwimmbad auf, manchmal auch mit Thomas und der einen oder anderen seiner Gespielinnen; anschließend gingen wir einen Tee oder eine heiße Schokolade trinken, dann führte ich Helene ins Kino, wenn es etwas gab, was die Mühe lohnte, oder auch in ein Konzert von Karajan oder Furtwängler, schließlich aßen wir zu Abend, und ich brachte sie nach Hause. Auch während der Woche sah ich sie hin und wieder: Einige Tage nach meinem Besuch in Mittelbau hatte ich sie in unseren Fechtsaal im Prinz-Albrecht-Palais eingeladen, wo sie uns zusah und unsere Stöße und Finten beklatschte, dann gingen wir mit ihrer Freundin Liselotte und Thomas, der mit dieser hemmungslos flirtete, in ein italienisches Restaurant. Auch am 16. Dezember, während des großen englischen Fliegerangriffs, waren wir zusammen; in dem öffentlichenLuftschutzbunker, in dem wir Zuflucht gesucht hatten, saß sie wortlos neben mir, unsere Schultern berührten sich; bei besonders nahen Detonationen zuckte sie leicht zusammen. Nach dem Angriff führte ich sie ins Esplanade , das einzige geöffnete Restaurant, das ich fand: Mir gegenüber, die schmalen weißen Hände auf dem Tisch, sah sie mich schweigend aus ihren schönen dunklen Augen an, tief, forschend, neugierig und doch gelassen. In solchen Augenblicken sagte ich mir, dass ich, hätten die Dinge anders gelegen, diese Frau hätte heiraten und mit ihr Kinder haben können – wie es sehr viel später mit einer anderen Frau der Fall war, die ihr nicht das Wasser reichen konnte. Und das hätte ich gewiss nicht getan, um Brandt oder dem Reichsführer zu gefallen, um eine Pflicht zu erfüllen oder den Konventionen zu genügen: Das wäre ein Stück Alltagsleben gewesen, ein Stück Normalität, einfach und natürlich. Aber mein Leben hatte einen anderen Weg genommen, und jetzt war es zu spät. Sie hatte, wenn sie mich ansah, vermutlich ähnliche Gedanken oder vielmehr die Gedanken einer Frau, anders als die eines Mannes, aber anders wohl eher in Tonlage und Färbung als im Inhalt, jedenfalls schwer vorstellbar für einen Mann, selbst für mich. Ich malte mir diese Gedanken so aus: Wäre es bei diesem Mann denkbar, dass ich in sein Bett käme und mich ihm hingäbe? Sich hingeben, was für eine merkwürdige Sprachformel; aber dass der Mann, der die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht ganz begreift, seinerseits versucht, sich penetrieren zu lassen, würde ihr vielleicht die Augen öffnen. Bei solchen Überlegungen verspürte ich im Allgemeinen kein Bedauern, eher ein Gefühl fast süßer Bitterkeit. Aber manchmal hakte sie sich auf der Straße mit einer selbstverständlichen Geste bei mir ein, und dann ertappte ich mich dabei, dass ich mich nach diesem anderen Leben sehnte, das ich hätte führen können, wenn da nicht etwas so früh zerbrochen wäre. Es ging nicht nur um meine Schwester; es ging um weit mehr, umden ganzen Gang der Ereignisse, die Trostlosigkeit des Körpers und der Lust, die Entscheidungen, die wir treffen und hinter die wir nicht mehr zurückkönnen, den Sinn selbst, den wir beschließen, jener Sache zu geben, die wir, vielleicht zu Unrecht, unser Leben nennen.
    Schneefall hatte eingesetzt, ein feuchter Schnee, der nicht liegen blieb. Als er schließlich doch ein oder zwei Nächte liegen blieb, verlieh er den Ruinen der Stadt eine kurze fremdartige Schönheit, dann schmolz er und vertiefte den Schlamm, der die aufgewühlten Straßen verunstaltete. Mit meinen derben Reitstiefeln marschierte ich hindurch, ohne darauf zu achten, eine Ordonnanz würde sie mir am folgenden Tag putzen; doch Helene trug einfache Schuhe, und als wir zu einem grauen Streifen klebrigen geschmolzenen Schnees kamen, suchte ich ein Brett, legte es vor uns aus und hielt ihre zarte Hand, während sie darüberbalancierte; und wenn das nicht möglich war, trug ich sie mühelos auf meinen Armen. Am Tag vor Weihnachten gab Thomas ein Fest in seinem neuen Haus in Dahlem, einer gemütlichen kleinen Villa: Wie immer hatte er

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