Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
nicht versucht, meine Schwester zu erreichen; daswurde wichtig, denn wenn sie sie fanden und ihre Darstellung im Widerspruch zu meiner stand, würde das ihren Verdacht noch verstärken; sie wären sogar fähig, dachte ich voller Entsetzen, mich vor Gericht zu bringen. Aber wie sollte ich Una finden? Thomas müsste Kontakte in die Schweiz haben, sagte ich mir, er könnte Schellenberg fragen. Jedenfalls musste etwas geschehen, die Situation wurde allmählich lächerlich. Und die Sache mit den Zwillingen war beunruhigend.
    Drei Tage vor dem Jahreswechsel schneite es ziemlich heftig, dieses Mal blieb der Schnee liegen. Beflügelt vom Erfolg seiner Weihnachtsfeier, beschloss Thomas, alle noch einmal einzuladen: »Nutzen wir die Bude doch, bevor sie auch abbrennt.« Ich bat Helene, ihren Eltern Bescheid zu sagen, dass sie spät heimkommen würde, und es wurde ein ausgesprochen fröhliches Fest. Kurz vor Mitternacht bewaffnete sich die ganze Gesellschaft mit Champagner und Körben voll Austern und zog zu Fuß in den Grunewald. Jungfräulich und rein lag der Schnee unter den Bäumen; der wolkenlose Himmel wurde von einem fast vollen Mond erhellt, der ein bläuliches Licht über die weiße Fläche ausgoss. Auf einer Lichtung köpfte Thomas den Champagner – er hatte sich zu diesem Zweck eigens mit einem echten Kavalleriesäbel ausgestattet, den er von der Wand unseres Fechtsaals genommen hatte –, während sich die Geschickteren unter uns abmühten, die Austern zu öffnen, eine schwierige und gefährliche Kunst, wenn man nicht das Händchen dafür hat. Um Mitternacht schalteten die Artilleristen der Luftwaffe anstelle eines Feuerwerks ihre Strahler ein, zündeten Leuchtraketen und feuerten ein paar Salven aus den Acht-acht ab. Dieses Mal küsste Helene mich rückhaltlos, nicht lange, aber es war ein intensiver heiterer Kuss, der mir einen Schauer von Angst und Lust durch die Glieder jagte. Erstaunlich, sagte ich mir und trank einen Schluck Champagner, um meine Verwirrung zu verbergen, da werde ich, der glaubte, ihm sei keine menschlicheEmpfindung mehr fremd, vom Kuss einer Frau vollkommen durcheinandergebracht. Die anderen lachten, bewarfen sich mit Schneebällen und schlürften die Austern direkt aus der Schale. Hohenegg, eine mottenzerfressene Schapka auf seinem ovalen kahlen Schädel, hatte sich als geschicktester Austernöffner erwiesen: »Fast das Gleiche wie ein Thorax«, er lachte. Schellenberg dagegen hatte sich den ganzen Daumenballen aufgerissen, ließ sein Blut seelenruhig in den Schnee tropfen und trank Champagner, ohne dass jemand auf die Idee kam, ihn zu verbinden. Von der allgemeinen Ausgelassenheit angesteckt, begann auch ich, umherzurennen und mit Schneebällen zu werfen; je mehr wir tranken, desto wilder wurde das Spiel, wir packten einander bei den Beinen wie beim Rugby, stopften uns den Schnee händeweise in den Kragen, unsere Mäntel waren durchnässt, aber wir froren nicht. Ich stieß Helene in den Pulverschnee, strauchelte und ließ mich neben sie fallen; auf dem Rücken liegend, die Arme seitwärts in den Schnee gestreckt, lachte sie; beim Fallen war ihr langer Rock hochgerutscht, und ohne nachzudenken, legte ich meine Hand auf ihr entblößtes Knie, das nur durch einen Strumpf geschützt war. Immer noch lachend, wandte sie mir den Kopf zu und blickte mich an. Ich nahm meine Hand fort und half ihr beim Aufstehen. Wir kehrten erst zurück, nachdem wir die letzte Flasche geleert hatten; wir mussten Schellenberg zurückhalten, der unbedingt auf die leeren Flaschen schießen wollte; als wir durch den Schnee stapften, nahm Helene meinen Arm. Im Haus überließ Thomas sein Schlafzimmer und das Gästezimmer galant den müden jungen Frauen, die vollkommen angekleidet zu dritt in einem Bett schliefen. Ich beendete die Nacht, indem ich mit Hohenegg, der den Kopf unter kaltes Wasser gehalten hatte und Tee trank, Schach spielte und über die Dreieinigkeit des Augustinus diskutierte. So begann das Jahr 1944.
     
    Speer hatte sich seit dem Besuch in Mittelbau nicht mehr mit mir in Verbindung gesetzt; Anfang Januar rief er mich an, um mir ein frohes neues Jahr zu wünschen und mich um einen Gefallen zu bitten. Sein Ministerium hatte das RSHA ersucht, einige auf den Metallankauf spezialisierte Amsterdamer Juden, die wertvolle Verbindungen ins neutrale Ausland unterhielten, von der Deportation auszunehmen; unter Berufung auf die Zuspitzung der Lage in Holland und die Notwendigkeit, dort besondere Unnachgiebigkeit an

Weitere Kostenlose Bücher