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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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sich zu helfen gewusst. Schellenberg und Frau waren da, außerdem noch einige andere Offiziere; ich hatte Hohenegg eingeladen, Osnabrugge aber leider nicht ausfindig machen können, der wohl noch in Polen war. Thomas schien bei Liselotte, Helenes Freundin, ans Ziel gekommen zu sein: Bei ihrer Ankunft küsste sie ihn stürmisch. Helene trug ein neues Kleid – der Himmel mochte wissen, woher sie den Stoff hatte, der Mangel wurde immer deutlicher spürbar – und lächelte entzückend, sie war allem Anschein nach glücklich. Alle Herren waren dieses Mal in Zivil. Wir waren kaum eingetroffen, als die Sirenen einsetzten. Thomas beruhigte uns, erklärte, dass die Maschinen aus Italien ihre ersten Bomben fast nie vor Schöneberg und Tempelhof abwürfen und die aus England nördlich an Dahlem vorbeiflögen. Trotzdem dämpften wir das Licht; dicke schwarze Vorhänge hingenvor den Fenstern. Die Flak begann zu hämmern, Thomas legte eine Platte auf, wilden amerikanischen Jazz, und zog Liselotte zum Tanzen mit sich. Helene trank Weißwein und sah den beiden zu; als Thomas eine langsame Platte auflegte, forderte sie mich zum Tanzen auf. Über uns hörten wir die Bomberpulks dröhnen; unablässig knatterte die Flak, die Scheiben zitterten, die Musik war kaum zu vernehmen, aber Helene tanzte, als wären wir allein in einem Ballsaal, leicht auf mich gestützt, ihre Hand fest in der meinen. Anschließend tanzte sie mit Thomas, ich stieß mit Hohenegg an. Thomas hatte Recht: Im Norden ahnten wir ein ungeheures dumpfes Beben mehr, als dass wir es hörten, aber in unserer Nähe kam nichts herunter. Ich betrachtete Schellenberg; er hatte zugenommen, seine Erfolge bewogen ihn nicht zur Mäßigung. Er witzelte mit seinen Spezialisten über unsere Rückschläge in Italien. Einigen Bemerkungen, die Thomas gelegentlich fallen ließ, hatte ich entnommen, dass Schellenberg glaubte, den Schlüssel zur Zukunft Deutschlands in der Hand zu halten; er war überzeugt davon, dass, wenn man nur auf ihn und seine unfehlbaren Analysen hörte, noch Zeit wäre, zu retten, was zu retten sei. Allein die Tatsache, dass er davon sprach, zu retten, was zu retten ist , genügte, um mich auf die Palme zu bringen: Doch offenbar hörte der Reichsführer auf ihn, und ich fragte mich, wie weit er mit seinen Intrigen gediehen sein mochte. Nach Beendigung des Alarms versuchte Thomas mit dem RSHA zu telefonieren, aber die Leitungen waren unterbrochen. »Das haben diese Schweine absichtlich gemacht, um uns Weihnachten zu versauen«, meinte er zu mir. »Aber das lassen wir nicht zu.« Ich sah Helene an: Sie saß neben Liselotte und unterhielt sich lebhaft mit ihr. »Ein feines Mädel«, erklärte Thomas, der meinem Blick gefolgt war. »Warum heiratest du sie nicht?« Ich lächelte: »Kümmer du dich gefälligst um deinen eigenen Mist, Thomas.« Er zuckte die Achseln: »Setz wenigstens das Gerüchtin die Welt, dass du verlobt bist. Dann hört Brandt auf, dir auf die Nerven zu gehen.« Ich hatte ihm von Brandts Kommentaren berichtet. »Und du?«, erwiderte ich. »Du bist ein Jahr älter als ich. Machen sie dir keine Vorhaltungen?« Er lachte: »Mir? Das ist nicht das Gleiche. Erstens ist meine angeborene Unfähigkeit, es länger als einen Monat mit ein und demselben Mädel auszuhalten, hinlänglich bekannt. Aber vor allem« – hier senkte er die Stimme –, »das bleibt unter uns, habe ich zwei zum Lebensborn geschickt. Der Reichsführer soll begeistert gewesen sein.« Wieder legte er eine Jazzplatte auf; offenbar bediente er sich aus den von der Gestapo beschlagnahmten Beständen. Ich folgte ihm und forderte Helene noch einmal zum Tanzen auf. Um Mitternacht löschte Thomas alle Lichter. Ich hörte den fröhlichen Aufschrei einer jungen Frau, ein unterdrücktes Lachen. Helene war mir ganz nah: Für einen kurzen Moment spürte ich ihren süßen heißen Atem auf meinem Gesicht, und ihre Lippen streiften die meinen. Mein Herz hämmerte. Als das Licht wieder anging, sagte sie mit ernster, ruhiger Miene zu mir: »Ich muss nach Hause. Ich habe meinen Eltern nicht Bescheid gesagt, sie werden sich Sorgen machen, wegen des Luftalarms.« Ich hatte Pionteks Fahrzeug genommen. Wir gelangten über den Kurfürstendamm in die Stadtmitte; zur Rechten glühte der rötliche Schein der durch die Bomben entzündeten Brände. Es hatte zu schneien begonnen. Einige Bomben waren auf Tiergarten und Moabit gefallen, aber die Schäden schienen im Vergleich zu den Großangriffen des Vormonats

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