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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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obersten Parteirichter. Er hat ihr neun oder zehn Gören gemacht, ich weiß nicht genau. Und sie antwortet ihm so ungefähr: Das hast du gut gemacht, ich bin dir nicht böse, ich bin nicht eifersüchtig. Sie schlägt ihm sogar vor, die Kleine doch bei ihnen zu Hause einzuquartieren. Und dann schreibt sie, da infolge dieses Krieges die Geburtenrate so fürchterlich zurückgegangen sei, würden sie – die Bormanns – ein auf Rotation basierendes Mutterschaftssystem einrichten, damit er immer eine einsatzfähige Frau zur Verfügung habe.« Lächelnd hielt Thomas inne, während ich in schallendes Gelächter ausbrach: »Im Ernst? Das hat sie wirklich geschrieben?« – »Ich schwör’s dir. Eine einsatzfähige Frau. Kannst du dir das vorstellen?« Er lachte ebenfalls. »Und kennst du auch Bormanns Antwort?«, fragte ich. »Na was, er hat ihr natürlich gratuliert. Und dann weltanschauliche Gemeinplätze von sich gegeben. Ich glaube, er hat sie als reines Kind des Nationalsozialismus bezeichnet. Aber es ist klar, dass er das nur ihr zu Gefallen geschrieben hat. Bormann glaubt an gar nichts. Abgesehen davon, dass er alles restlos ausmerzen muss, was sich zwischen ihn und den Führer stellen könnte.« Ich blickte ihn ironisch an: »Und woran glaubst du?« SeineAntwort enttäuschte mich nicht. Sich auf seiner Bank aufrichtend, erklärte er: »Um aus einem Jugendwerk unseres erlauchten Propagandaministers zu zitieren: Wichtig ist nicht, woran man glaubt, sondern daß man glaubt. « Ich lächelte; manchmal beeindruckte mich Thomas. Was ich ihm auch nicht verheimlichte: »Du beeindruckst mich, Thomas.« – »Was willst du? Ich bin nicht zum Schreibstubenhengst geboren. Ich bin ein echter Nationalsozialist. Bormann auf seine Art ist es auch. Bei deinem Speer bin ich mir nicht sicher. Er ist begabt, aber ich glaube nicht, dass ihn interessiert, welchem Staat er dient.« Ich musste an Schellenberg denken und lächelte wieder. Thomas fuhr fort: »Je schwieriger die Situation wird, desto mehr müssen wir uns auf die einzigen wahren Nationalsozialisten verlassen. Die Ratten beginnen das sinkende Schiff zu verlassen. Du wirst sehen.«
     
     
    Tatsächlich machten sich im Kielraum des Reichs die Ratten verstärkt bemerkbar, wimmelnd, piepsend, von schrecklicher Unruhe erfüllt. Seit dem Seitenwechsel Italiens ließen die Spannungen mit den anderen Verbündeten die feinen Risse in den Beziehungen zu ihnen erkennen. Jeder begann auf seine Weise, nach einer Hintertür zu suchen, und keine dieser Türen war deutsch. Laut Thomas glaubte Schellenberg, dass die Rumänen in Stockholm mit den Sowjets verhandelten. Vor allem aber war die Rede von den Ungarn. Die russischen Truppen hatten Luzk und Rowno genommen; wenn ihnen Galizien in die Hände fiel, standen sie vor den Toren Ungarns. Ministerpräsident Kállay arbeitete seit mehr als einem Jahr unermüdlich an seinem Ruf, ein höchst unzuverlässiger Freund Deutschlands zu sein. Weitere Probleme erwuchsen aus der ungarischen Haltung zur Judenfrage: Nicht nur, dass sie sich weigerten, über eine Rassengesetzgebunghinauszugehen, die angesichts der Verhältnisse sehr unzulänglich war – ungarische Juden bekleideten nach wie vor wichtige Posten in der Industrie, Halbjuden oder Ehemänner von Jüdinnen hatten noch Regierungsämter inne –, sondern sie verfügten auch über ein beträchtliches jüdisches Arbeitskräftereservoir, großenteils aus Facharbeitern bestehend, und lehnten alle Gesuche der Deutschen ab, einen Teil dieser Arbeitskräfte für die Kriegsanstrengungen zur Verfügung zu stellen. Schon Anfang Februar wurden diese Fragen auf Besprechungen erörtert, an denen Fachleute zahlreicher Abteilungen teilnahmen: Gelegentlich war auch ich zugegen oder schickte einen meiner Experten. Das RSHA befürwortete einen Regierungswechsel; meine Mitwirkung beschränkte sich auf Untersuchungen zur möglichen Verwendung ungarisch-jüdischer Arbeiter für den Fall, dass sich die Lage günstig entwickeln sollte. In diesem Rahmen hatte ich eine Reihe von Besprechungen mit Mitarbeitern Speers. Doch deren Haltung war häufig merkwürdig widersprüchlich und schwer auf einen Nenner zu bringen. Speer selbst blieb unerreichbar; es sollte ihm äußerst schlecht gehen. Das war ziemlich verwirrend: Ich hatte den Eindruck, ins Leere zu planen, Studien anzuhäufen, deren Wert eher fiktiv war. Trotzdem wuchs meine Dienststelle – ich verfügte jetzt über drei Offiziere mit Spezialkenntnissen, und Brandt

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