Die Wohlgesinnten
Eine solche Ermüdung kennt kein Ende, nur der Tod kann einen Schlussstrich ziehen, sie hält bis heute an, und für mich wird sie immer anhalten.
Mit Helene sprach ich nie darüber. Wenn wir uns abends oder sonntags sahen, sprachen wir über das Tagesgeschehen, die Schwierigkeiten des Alltags, die Bombenangriffe oder über Kunst, Literatur und Filme. Hin und wieder erzählte ich ihr von meiner Kindheit, meinem Leben; aber nicht von allem, die schmerzlichen und schwierigen Dinge ließ ich aus. Manchmal war ich versucht, offener mit ihr zu sprechen, doch etwas hielt mich zurück. Warum? Ich weiß es nicht. Man könnte denken, dass ich befürchtete, sie zu schockieren, sie vor den Kopf zu stoßen. Aber das war es nicht. Zwar kannte ich diese Frau im Grunde noch recht wenig, aber doch genügend, um zu wissen, dass sie bestimmt zuhören konnte, zuhören, ohne zu urteilen (während ich das schreibe, denke ich an all die Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe; wie sie reagiert hätte, wenn sie vom ganzen Ausmaß und den Konsequenzen meiner Arbeit erfahren hätte, konnte ich damals beim besten Willen nicht vorhersagen, aber davon war in unseren Gesprächen ohnehin nie die Rede, zunächst einmal wegen der Geheimhaltungsvorschriften, aber dann auch aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen uns, wie ich glaube, einer Art »Taktgefühl«). Was also hielt die Worte zurück, als sie mir am Abend nach dem Essen in einem Anflug von Müdigkeit und Schwermut auf die Zungedrängten? Die Angst, nicht vor ihrer Reaktion, sondern einfach davor, mich so zu zeigen, wie ich war? Oder ganz einfach die Angst davor, sie noch näher an mich heranzulassen, näher, als sie mir schon gekommen war und ich sie gelassen hatte, ohne es eigentlich zu wollen? Denn wenn unsere Beziehung auch die guter und relativ neuer Freunde blieb, so entwickelte sich langsam etwas bei ihr – der Gedanke ans Bett und vielleicht an mehr. Manchmal machte mich das traurig, meine Unfähigkeit, ihr zu geben, was es auch sei, oder auch nur hinzunehmen, was sie mir zu geben hatte, war mir unerträglich: Sie sah mich mit diesem langen und geduldigen Blick an, der so tiefen Eindruck auf mich machte, und ich sagte mir mit einer Brutalität, die mit jedem Gedanken heftiger wurde: Nachts, wenn du dich schlafen legst, denkst du an mich, berührst du vielleicht deinen Leib, deine Brüste bei dem Gedanken an mich, legst du die Hand zwischen deine Beine bei dem Gedanken an mich, vielleicht schläfst du ein mit dem Gedanken an mich, und ich, ich liebe nur einen Menschen, unter allen Frauen die einzige, die ich nicht haben kann, die, deren Bild mich niemals loslässt und mir nur aus dem Kopf geht, um mir in die Knochen zu fahren, die, die immer zwischen der Welt und mir stehen wird und damit auch zwischen dir und mir, deren Küsse immer über die deinen spotten werden, die, deren Heirat sogar noch dazu führt, dass ich dich nur heiraten könnte, um vielleicht zu fühlen, was sie in ihrer Ehe fühlt, sie, deren bloße Existenz bewirkt, dass du für mich niemals vollständig existieren kannst, und was das Übrige angeht, denn das Übrige gibt es auch noch, so ist es mir immer noch lieber, mir den Arsch von unbekannten jungen Burschen, bezahlten, wenn es sein muss, durchbohren zu lassen, womit ich ihr ebenfalls auf meine Art nahekomme, und mir sind die Angst und die Leere und die Sterilität meiner Gedanken allemal lieber, als schwach zu werden.
Die Pläne für Ungarn nahmen Gestalt an; Anfang März bestellte mich der Reichsführer ein. Am Vortag hatten die Amerikaner ihren ersten Tagesangriff auf Berlin geflogen; es war ein ganz kleiner Angriff, nur etwa dreißig Bomber, und die Goebbels-Presse hatte sich darüber lustig gemacht, wie wenig er angerichtet hatte, aber diese Bomber waren zum ersten Mal von Langstreckenjägern begleitet gewesen, einer neuen und in ihren Auswirkungen erschreckenden Waffe, denn unsere eigenen Jäger waren verlustreich zurückgeschlagen worden, und es bedurfte schon einer gehörigen Portion Dummheit, um nicht zu begreifen, dass dieser Angriff nur eine Probe gewesen war, ein gelungener Test, und dass es fortan keine Ruhepause mehr geben würde, weder am Tage noch in den Vollmondnächten, und dass fortan die Front überall und die ganze Zeit über sein würde. Die Unfähigkeit unserer Luftwaffe, einen wirksamen Gegenschlag zu führen, war nicht zu übersehen. Diese Auffassung wurde mir durch die nüchternen exakten Worte des
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