Die Wohlgesinnten
Achseln: »Wenn du einen guten Grund weißt, lässt sich das machen. Gehen wir essen?« Tatsächlich interessierte sich Thomas herzlich wenig für meine Probleme, dafür umso mehr für die von Speer. »Da unten ist der Teufel los«, berichtete er mir im Restaurant. »In der OT ebenfalls. Schwer zu durchschauen. Aber offensichtlich gibt es einige Leute, die seinen Krankenhausaufenthalt für eine Chance halten.« – »Eine Chance?« – »Ihn zu ersetzen. Speer hat sich viele Feinde gemacht. Bormann ist gegen ihn, Sauckel auch, alle Gauleiter, ausgenommen Kaufmann und vielleicht Hanke.« – »Und der Reichsführer?« – »Der Reichsführer hat ihn bis jetzt mehr oder weniger unterstützt. Aber das könnte sich ändern.« – »Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht ganz, was all diese Intrigen sollen«, sagte ich langsam. »Man braucht sich doch nur die Zahlen anzusehen: Ohne Speer hätten wir den Krieg zweifellos längst verloren. Und die Situation ist jetzt wirklich kritisch. Da müsste sich doch ganz Deutschland einig sein und gegen diese Gefahr zusammenschließen.« Thomas lächelte: »Du bist und bleibst ein Idealist. Das ist auch gut so! Aber die meisten Gauleiter sehen nicht über den Tellerrand ihrer persönlichen Interessen oder den ihrer Gaue.« – »Trotzdem, statt Speers Bemühungen um Produktionssteigerung zu hintertreiben, täten sie besser daran, sich zu erinnern, dass alle, auch sie selbst, am Strick enden, wenn wir verlieren. Das sollte doch ihr persönliches Interesse sein, oder nicht?« – »Natürlich. Aber du darfst nicht vergessen, dass es bei alldem noch um etwas anderes geht. Es ist auch eine Frage der politischen Sichtweise. Schellenbergs Diagnose leuchtetnicht allen ein, genauso wenig wie die Lösungen, die er vorschlägt.« Damit sind wir also beim springenden Punkt, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. »Zu welcher Diagnose kommt denn dein Freund Schellenberg? Und zu welchen Lösungen?« Thomas blickte sich um. Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, sah er etwas beunruhigt aus. »Nach Schellenbergs Auffassung ist der Krieg verloren, wenn wir so weitermachen wie bisher, egal, welche industriellen Wundertaten Speer noch vollbringt. Für Schellenberg ist die einzig gangbare Lösung ein Separatfrieden mit den Westmächten.« – »Und du? Was meinst du?« Er überlegte: »Er hat nicht Unrecht. Übrigens bin ich deswegen bei manchen Leuten in unserem Verein ziemlich in Verschiss. Zwar besitzt Schellenberg das Vertrauen des Reichsführers, aber er hat ihn noch nicht überzeugt. Und viele andere sind damit überhaupt nicht einverstanden, Müller zum Beispiel und Kaltenbrunner. Kaltenbrunner versucht eine Annäherung an Bormann. Wenn es ihm gelingt, könnte er dem Reichsführer Probleme bereiten. Auf dieser Ebene ist Speer nur ein zweitrangiges Problem.« – »Ich sage nicht, dass Schellenberg Recht hat. Aber die anderen, was für eine Lösung sehen die? Angesichts des amerikanischen Industriepotenzials kann Speer machen, was er will – die Zeit spielt gegen uns.« – »Ich weiß nicht«, sagte Thomas versonnen. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie an die Wunderwaffen glauben. Du hast sie doch gesehen. Was meinst du?« Ich zuckte die Achseln: »Weiß nicht. Keine Ahnung, ob sie was taugen.« Das Essen kam, und unsere Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu. Beim Nachtisch kam Thomas mit einem boshaften Lächeln auf Bormann zurück. »Weißt du, Kaltenbrunner führt eine Akte über Bormann. Ich kümmer mich ein bisschen darum.« – »Über Bormann? Du hast mir doch gerade gesagt, dass Kaltenbrunner sich um Annäherung bemüht.« – »Das spricht doch nicht dagegen. Schließlich führt Bormann Akten überalle – den Reichsführer, Speer, Kaltenbrunner, dich vielleicht auch.« Er hatte sich einen Zahnstocher in den Mund geschoben und ließ ihn jetzt geschickt auf seiner Zunge rollen. »Also, was ich dir erzählen wollte … Das bleibt unter uns, klar? … Kaltenbrunner hat ’ne Menge Briefe von Bormann und seiner Frau abgefangen. Eine Schatztruhe, sage ich dir. Eine wahre Blütenlese.« Mit mokantem Lächeln beugte er sich vor. »Bormann war hinter einer kleinen Schauspielerin her. Du weißt ja, er ist ein Mann von unersättlichen Bedürfnissen, der größte Sekretärinnenbeschäler des Reichs. Schellenberg nennt ihn den Tippsenrammler. Kurz und gut, er hat sie gekriegt. Das Schönste aber ist, er hat es seiner Frau geschrieben, du weißt doch, der Tochter von Buch, dem
Weitere Kostenlose Bücher