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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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keinen Kontakt zuSpeer. Mir erschienen die Argumente vernünftig, doch um die Wahrheit zu sagen, sie interessierten mich nicht.
    Je mehr Einblicke ich in diesen Mahlstrom von Intrigen an der Spitze des Staates hatte, desto weniger Lust verspürte ich, mich daran zu beteiligen. Bevor ich in meine gegenwärtige Stellung aufgestiegen war, hatte ich, zweifellos recht naiv, angenommen, dass die großen Entscheidungen auf der Grundlage weltanschaulicher und vernünftiger Erwägungen zustandekommen würden. Jetzt erkannte ich, dass das zwar bis zu einem gewissen Grade stimmte, dass aber auch viele andere Faktoren eine Rolle spielten: bürokratische Kompetenzstreitigkeiten, der persönliche Ehrgeiz einiger Beteiligter, Sonderinteressen. Der Führer konnte natürlich nicht selbst alle Fragen klären; und außerhalb seines unmittelbaren Einflussbereichs schienen viele Mechanismen der Entscheidungsfindung pervertiert, ja verderbt zu sein. In solchen Situationen war Thomas in seinem Element, während ich mich unbehaglich fühlte, und zwar nicht nur, weil mir das Talent zur Intrige fehlte. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sich Coventry Patmores Verse bewahrheiten müssten: The truth is great, and shall prevail, / When none cares whether it prevail or not ; dass der Nationalsozialismus nichts anderes sein könnte als das gemeinsame Bemühen um den rechten Glauben und diese Wahrheit. Das war für mich umso notwendiger, als mich die Umstände meines ruhelosen Lebens, hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern, von den anderen Menschen schieden: Auch ich wollte meinen Stein zum gemeinsamen Werk beitragen, auch ich wollte mich als Teil des Ganzen fühlen können. Leider dachten in unserem nationalsozialistischen Staat, zumal außerhalb der SD-Kreise, nur wenige Menschen wie ich. Insofern konnte ich die brutale Direktheit eines Eichmann nur bewundern: Er hatte seine eigene Vorstellung vom Nationalsozialismus, von dem ihm gebührenden Platz und von dem, was er an diesem Platz zutun hatte, und an dieser Vorstellung hielt er eisern fest, stellte all seine Kraft und Entschlossenheit in ihren Dienst, und solange seine Vorgesetzten ihn in dieser Vorstellung bestärkten, war sie die richtige, und Eichmann blieb ein glücklicher Mensch, seiner selbst gewiss, der seine Dienststelle fest im Griff hatte. Das sah bei mir ganz anders aus. Mein Unglück erwuchs vielleicht daraus, dass man mich mit Aufgaben betraut hatte, die nicht meinen natürlichen Neigungen entsprachen. Schon seit Russland fühlte ich mich wie neben mir stehend, fähig, alles zu tun, was man von mir verlangte, aber auch in mich selbst eingesperrt, was die Initiative anging, denn diese zunächst polizeilichen, dann wirtschaftlichen Aufgaben hatte ich zwar bearbeitet und bewältigt, aber es war mir noch nicht gelungen, mich von ihrer Berechtigung zu überzeugen, die innere Notwendigkeit, die sie leitete, wirklich zu begreifen und damit meinen Pfad mit der Sicherheit eines Schlafwandlers zu gehen wie der Führer und so viele meiner Kameraden, die dafür begabter waren als ich. Ob es wohl ein anderes Tätigkeitsfeld gegeben hätte, das mir mehr entsprochen, auf dem ich mich eher zu Hause gefühlt hätte? Möglich, aber schwer zu entscheiden, weil es nicht gegeben war, und schließlich zählt nur, was gewesen ist, und nicht, was hätte sein können. Die Dinge waren von Anfang an nicht so, wie ich sie mir gewünscht hätte: Damit hatte ich mich schon lange abgefunden (und gleichzeitig hatte ich die Dinge selbst nie so akzeptiert, wie sie waren, so falsch und so schlecht, allenfalls hatte ich letztlich mein Unvermögen eingesehen, sie zu verändern). Richtig ist auch, dass ich mich verändert hatte. Als junger Mensch hatte ich in der Klarheit meiner Ansichten gelebt, ich hatte genaue Vorstellungen von der Welt, davon, wie sie sein sollte und wie sie tatsächlich war, und von meinem Platz in dieser Welt; und mit der ganzen Torheit und Überheblichkeit der Jugend hatte ich gedacht, dass dies immer so sein würde, dass sich die aus meinerAnalyse resultierende Haltung niemals verändern würde, aber ich hatte die Kräfte der Zeit vergessen – oder besser: noch nicht kennengelernt –, die Kräfte der Zeit und der Ermüdung. Und mehr noch als meine Unentschlossenheit, meine weltanschauliche Verwirrung, meine Unfähigkeit, eine klare Position zu den von mir behandelten Fragen zu beziehen, waren es diese Kräfte, die mich zermürbten, die mir den Boden unter den Füßen entzogen.

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