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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Deutschland verließen, was im Übrigen die einzige vernünftige Lösung gewesen wäre? Was ich sagen möchte, um auf die Frage zurückzukommen, die ich gestellt habe, denn ich bin etwas abgeschweift: Selbst wenn objektiv am Endziel kein Zweifel besteht, so ging es den meisten Beteiligten nicht um dieses Ziel, nicht dieses Ziel veranlasste sie, sich mit so viel Energie und Hartnäckigkeit in die Arbeit zu stürzen, sondern eine Vielzahl unterschiedlichster Beweggründe, und ich bin überzeugt davon, dass es selbst Eichmann trotz seiner unversöhnlichen Haltung im Grunde gleichgültig war, ob man die Juden tötete oder nicht, für ihn ging es nur darum, zu zeigen, was er zu leisten vermochte, seinen Wert unter Beweis zu stellen und die Fertigkeiten anzuwenden, die er entwickelt hatte, alles andere war ihm schnuppe, die Industrie ebenso wie die Gaskammern, nur eines war ihm nichtschnuppe: dass er anderen schnuppe wäre, und das war der Grund, warum er zu den Verhandlungen mit den Juden ein so saures Gesicht machte, doch ich komme noch darauf zurück, denn das ist doch recht interessant, und für die anderen gilt das Gleiche, jeder hatte seine Gründe, der ungarische Apparat, der uns half, wollte erreichen, dass die Juden Ungarn verließen, ihm war aber schnuppe, was mit ihnen geschah, und Speer, Kammler und der Jägerstab wollten Arbeiter haben und drängten die SS mit großem Nachdruck, ihnen welche zu liefern, aber ihnen war schnuppe, was mit denen geschah, die nicht arbeiten konnten, und dann gab es noch alle möglichen praktischen Beweggründe, ich beispielsweise konzentrierte mich allein auf die Frage des Arbeitseinsatzes, aber das war bei weitem nicht der einzige wirtschaftliche Aspekt, wie ich bei der Begegnung mit einem Experten unseres Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft erfuhr, einem sehr intelligenten jungen Mann, der in seiner Arbeit aufging und mir eines Abends in einem alten Budapester Kaffeehaus die ernährungstechnische Seite der Angelegenheit erklärte, dass nämlich Deutschland nach dem Verlust der Ukraine mit einem empfindlichen Versorgungsengpass zu rechnen habe, besonders bei Getreide, und sich deshalb an Ungarn gewandt habe, einen bedeutenden Produzenten, was im Übrigen ihm zufolge der Hauptgrund für unsere Pseudoinvasion gewesen sei, nämlich diese Getreidequelle zu sichern, und deshalb hätten wir 1944 von den Ungarn 450 000 Tonnen Getreide verlangt, 360 000 Tonnen mehr als 1942, was eine Steigerung um 400 Prozent bedeute, allerdings müssten die Ungarn dieses Getreide irgendwo hernehmen, denn sie hätten schließlich auch ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, und diese 360 000 Tonnen entsprächen nun genau der Menge, die man für rund eine Million Menschen brauche, was etwas mehr als die Gesamtzahl aller ungarischen Juden sei, und daher betrachteten sie, die Experten des Ernährungsministeriums,die Evakuierung der Juden durch das RSHA als eine Maßnahme, die Ungarn erlaube, einen Getreideüberschuss an Deutschland abzugeben, der unserem Bedarf entspreche, doch was das Schicksal der evakuierten Juden anging, die man nun anderswo ernähren musste, wenn man sie nicht tötete, dafür interessierte sich dieser alles in allem sehr sympathische, wenn auch etwas zahlenbesessene Experte nicht, waren damit doch andere Abteilungen im Ernährungsministerium befasst, die Ernährung von Häftlingen und anderen Fremdarbeitern in Deutschland war nicht seine Angelegenheit, denn für ihn war die Evakuierung der Juden die Lösung seines Problems, selbst wenn sie andernorts für einen anderen zum Problem wurde. Und er war kein Einzelfall, dieser Mann, alle waren wie er, auch ich war wie er, auch ihr wärt an seiner Stelle gewesen wie er.

 
     
     
    Aber vielleicht ist euch das alles schnurzegal. Vielleicht würdet ihr statt meiner krankhaften und abstrusen Reflexionen viel lieber pikante Anekdötchen und Histörchen hören. Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Geschichten würde ich ja gerne erzählen: Doch dann, wenn ich so auf gut Glück in meinen Erinnerungen und Notizen herumstochere … ich habe es euch gesagt, ich werde müde, ich muss allmählich zum Ende kommen. Und wenn ich noch den Rest des Jahres 1944 in allen Einzelheiten erzählen müsste, so wie ich es bis hierher in etwa getan habe, fände ich nie ein Ende. Ihr seht, ich denke auch an euch, nicht nur an mich, ein klein wenig jedenfalls, schließlich gibt es Grenzen, denn wenn ich so viel Mühe auf mich nehme, dann nicht, um euch

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