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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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vermutlich auch. Wie viele Seiten habe ich schon mit diesen belanglosen bürokratischen Ereignissen gefüllt? So kann ich nicht mehr weitermachen: Eher fällt mir die Feder – oder vielmehr der Kugelschreiber – aus den Fingern. Vielleicht könnte ich eines Tages darauf zurückkommen; doch wozu soll ich diese schmutzige Geschichte mit Ungarn wieder aufwärmen? Sie ist ausführlich dokumentiert, von Historikern, die einen sehr viel umfassenderen Überblick haben als ich. Schließlich habe ich dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Zwar bin ich einigen der Protagonisten begegnet, doch habe ich ihren Erinnerungen nicht viel hinzuzufügen. Die großen Intrigen, die folgten, vor allem die Verhandlungen zwischen Eichmann, Becher und den Juden, all diese Geschichten um den Freikauf von Juden gegen Geld, Lastwagen, all das, ja, das war mir mehr oder weniger bekannt, darüber habe ich diskutiert, ich habe sogar einige der beteiligten Juden kennengelernt, auch Becher, diese zwielichtige Figur, der nach Ungarn gekommen war, um Pferde für die Waffen-SS zu kaufen, und der sich dann unversehens, im Auftrag des Reichsführers, die größte Rüstungsfabrik des Landes, die Manfred-Weiss-Werke, unter den Nagel gerissen hatte, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen, weder Veesenmayer noch Winkelmann noch mich, und dem der Reichsführer anschließend Aufgaben übertragen hatte, die sich sowohl mit meinen als auch mit Eichmanns Aufgaben überschnitten, teils zu ihnen im Widerspruch standen, was, wie ich heute erkenne, eine charakteristische Methode des Reichsführers war, hier aber nur Zwietracht und Verwirrung stiftete, niemand koordinierte irgendetwas, Winkelmann hatte nicht den geringsten Einfluss auf Eichmann oder Becher, die ihn über nichts informierten, und ich muss gestehen, dass ich mich kaum besser verhielt als sie, ich verhandelte ohne WinkelmannsWissen mit den Ungarn, vor allem mit dem Verteidigungsministerium, mit dem ich über General Greiffenberg, Veesenmayers Militärattaché, in Verbindung getreten war, um zu sehen, ob der Honvéd uns nicht auch seine jüdischen Arbeitsbataillone überstellen könnte, wenn nötig, mit der ausdrücklichen Zusage einer Sonderverköstigung, was der Honvéd natürlich kategorisch ablehnte, sodass uns Anfang des Monats an potenziellen Arbeitskräften nur noch dienstverpflichtete, in den Fabriken entbehrliche Zivilisten und deren Familien zur Verfügung standen, kurzum ein menschliches Potenzial von geringem Wert, einer der Gründe, dass ich diese Mission am Ende als totales Fiasko ansehen musste, aber nicht der einzige Grund, wovon noch die Rede sein wird, vielleicht auch ein wenig von den Verhandlungen mit den Juden, weil auch die meinen Aufgabenbereich im Endeffekt mehr oder weniger berührten, oder, um genauer zu sein, ich bediente mich, nein, ich versuchte, mich dieser Verhandlungen zu bedienen, um meine eigenen Pläne voranzutreiben, mit bescheidenem Erfolg, wie ich gerne zugebe, aus einer Vielzahl von Gründen, nicht nur dem gerade erwähnten, da war auch Eichmanns Haltung, die immer schwieriger wurde, ferner Becher, das WVHA, die ungarische Gendarmerie, alle mischten sie mit, müsst ihr wissen – egal, eigentlich wollte ich sagen, dass wir, wenn wir analysieren wollen, warum die ungarische Operation so klägliche Resultate für den Arbeitseinsatz brachte, immerhin meine vorrangige Sorge, all diese Leute und Institutionen in Betracht ziehen müssen, die alle ihr eigenes Spiel spielten, sich aber auch gegenseitig den Schwarzen Peter zuschoben, mir auch, da gab es keine löbliche Ausnahme, das könnt ihr mir glauben, kurzum, es war ein echter Saustall, ein totales Durcheinander, was am Ende dazu führte, dass die meisten deportierten Juden starben, will sagen, sofort vergast wurden, noch bevor sie zur Arbeit eingesetzt werden konnten, weil nur sehrwenige von denen, die nach Auschwitz kamen, arbeitsfähig waren, ein beträchtlicher Schwund von vielleicht 70 Prozent, niemand weiß es so recht, weswegen nach dem Krieg angenommen wurde, verständlicherweise angenommen wurde, dass es geradezu das Ziel der Operation gewesen sei, diese Juden zu töten, diese Frauen, diese Alten, diese properen, gesunden Kinder, und daher verstand niemand, warum die Deutschen, während sie dabei waren, den Krieg zu verlieren (aber das Gespenst der Niederlage zeichnete sich damals vielleicht noch nicht so deutlich ab, zumindest nicht aus deutscher Sicht), sich noch so darauf versteiften, das Massaker

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