Die Wohlgesinnten
ihn erwischt?«, rief Nagel. »Ich weiß nicht, Herr Untersturmführer«, erwiderte einer der Polizisten aus der Ferne. »Worauf warten Sie, gehen Sie nachschauen!« Auf der anderen Seite ergriffen plötzlich zwei weitere Juden die Flucht; wieder schossen die Orpos: Der eine sackte sofort zusammen, der andere verschwand im Wald. Nagel hatte seine Pistole gezogen, fuchtelte wild damit herum und brüllte unsinnige Befehle. In der Grube versuchte der Askari, einem verwundeten Juden das Gewehr an die Stirn zu setzen, dochder wälzte sich im Wasser umher, und sein Kopf verschwand unter der Oberfläche. Schließlich feuerte der Ukrainer aufs Geratewohl, der Schuss riss dem Juden den Unterkiefer ab, tötete ihn aber nicht, er schlug um sich, ergriff die Beine des Ukrainers. »Nagel«, sagte ich. »Was?« Sein Gesicht war verstört, die Hand mit der Pistole hing schlaff herunter. »Ich warte im Wagen.« Im Wald hörte man Schüsse, die Orpos schossen auf Flüchtlinge; ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Finger, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich alle Splitter herausgezogen hatte. In der Nähe der Grube begann einer der Juden zu weinen.
Ein solcher Dilettantismus wurde rasch zur Ausnahme. Im Laufe der Wochen sammelten die Offiziere Erfahrung, gewöhnten die Soldaten sich an das Verfahren; gleichzeitig war zu beobachten, dass alle ihren Platz in dem Geschehen suchten, jeder auf seine Weise bemüht, sich über das, was da passierte, klar zu werden. Bei Tisch, am Abend, diskutierten die Männer über die Aktionen, erzählten sich Anekdoten, verglichen ihre Erfahrungen, einige bedrückt, andere fröhlich. Wieder andere schwiegen, auf sie galt es zu achten. Es hatte bereits zwei Selbstmorde gegeben; eines Nachts war ein Mann davon erwacht, dass er das Magazin seines Gewehrs in die Zimmerdecke entleerte, wir hatten ihn gewaltsam bändigen müssen, ein Unterführer wäre dabei fast umgekommen. Einige reagierten mit Brutalität, gelegentlich sogar Sadismus, sie schlugen die Opfer, quälten sie, bevor sie sie töteten; die Offiziere versuchten, solche Auswüchse zu verhindern, aber es war schwierig, es gab Ausschreitungen. Sehr häufig fotografierten unsere Männer die Erschießungen; in ihren Unterkünften tauschten sie Fotos gegen Tabak, sie hefteten sie an die Wand, jeder konnte Abzüge bestellen. Da die Feldpostzensiert wurde, wussten wir, dass viele ihren Familien in Deutschland diese Fotos schickten, einige sogar in Gestalt kleiner Alben, mit Bildunterschriften geschmückt; diese Gewohnheit beunruhigte die vorgesetzten Stellen, war aber nicht zu unterbinden. Selbst die Offiziere ließen sich gehen. Einmal, als Juden wieder eine Grube aushoben, hörte ich, wie Bohr vor sich hin trällerte: »Die Erde ist kalt, die Erde ist sanft, grab, kleiner Jude, grab zu.« Der Dolmetscher übersetzte es, was mich zutiefst schockierte. Ich kannte Bohr nun seit einiger Zeit, er war ein ganz gewöhnlicher Mann, der keine besondere Feindseligkeit gegen Juden hegte, er tat seine Pflicht, wie es von ihm verlangt wurde; doch offensichtlich setzte ihm die Arbeit zu, er reagierte besorgniserregend. Natürlich gab es beim Kommando auch richtige Antisemiten; Lübbe beispielsweise, ein anderer Untersturmführer, nutzte jede Gelegenheit, um geifernde Hasstiraden gegen Israel vom Stapel zu lassen, als hätte sich das Weltjudentum gegen ihn, Lübbe, persönlich verschworen. Er ging damit allen auf die Nerven. Doch seine Haltung zu den Aktionen war widersprüchlich: Manchmal verhielt er sich brutal, aber manchmal bekam er auch am Morgen heftigen Durchfall, ließ sich plötzlich krankschreiben und musste ersetzt werden. »Mein Gott, wie hasse ich dieses Ungeziefer«, sagte er, während er ihnen beim Sterben zusah, »aber was für eine scheußliche Aufgabe.« Und als ich ihn fragte, ob ihm seine Überzeugung nicht hülfe, das zu ertragen, erwiderte er: »Hören Sie, nur weil ich Fleisch esse, muss ich an der Arbeit in einer Abdeckerei noch lange nicht Gefallen finden.« Er wurde übrigens einige Monate später versetzt, als Dr. Thomas, der Brigadeführer Rasch ablöste, die Kommandos säuberte. Aber Offiziere wie einfache Soldaten ließen sich immer schwerer unter Kontrolle halten, sie glaubten, sich über Verbote hinwegsetzen zu können, leisteten sich Unerhörtes, und es ist sicherlich normal, dass bei Arbeiten dieser Art die Grenzenverschwimmen, unscharf werden, und dann bestahlen einige die Juden auch, behielten deren goldene
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