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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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schon einige ukrainische Dörfer gesehen: Sie waren mir alle erheblich ärmer und bedürftiger erschienen als dieses hier, und ich befürchtete,Oberländers Theorien würden ins Wanken geraten. Ich trat den Rückweg an. Vor dem blauen Tor warteten noch immer die Gänse und beäugten eine Kuh, deren Augen tränten und von wimmelnden Fliegen förmlich verklebt waren. Auf dem Dorfplatz ließen die Askaris die Juden mit Gebrüll und Stockschlägen auf die Lastwagen steigen; dabei leisteten die Juden überhaupt keinen Widerstand. Unmittelbar vor mir schleiften zwei Ukrainer einen alten Mann mit Holzbein über den Boden, seine Prothese löste sich, rücksichtslos warfen sie ihn auf den Lastwagen. Nagel war fortgegangen, ich packte einen der Askaris am Arm und wies auf das Holzbein: »Leg das zu ihm auf den Lastwagen.« Der Ukrainer zuckte die Achseln, hob das Bein auf und warf es dem Alten hinterher. Auf jedem Lastwagen pferchte man ungefähr dreißig Juden zusammen; insgesamt mochten es hundertfünfzig sein, doch uns standen nur drei Lkws zur Verfügung, wir mussten also zweimal fahren. Als die Wagen beladen waren, bedeutete mir Nagel, in den Opel zu steigen, und fuhr in Richtung Wald, gefolgt von den Lastwagen. Man hatte die Lichtung bereits abgesperrt. Wir ließen absitzen, dann befahl Nagel, die Juden zu bestimmen, die graben sollten; die anderen hatten an Ort und Stelle zu warten. Ein Hauptscharführer nahm die Selektion vor, Schaufeln wurden verteilt; Nagel stellte eine Eskorte zusammen, und die Gruppe verschwand im Wald. Die Lastwagen waren wieder abgefahren. Ich betrachtete die Juden: Die in meiner Nähe erschienen blass, aber ruhig. Nagel trat zu mir und erklärte nachdrücklich, indem er auf die Juden wies: »Das ist notwendig, verstehen Sie? Bei alledem darf das menschliche Leid überhaupt keine Rolle spielen.« – »Sicher, aber trotzdem zählt es irgendwie.« Genau das war es, was mir unbegreiflich blieb: die Kluft, die absolute Unverhältnismäßigkeit zwischen der Leichtigkeit, mit der es sich tötet, und der unendlichen Schwierigkeit, mit der gestorben wird. Für uns war esein schmutziges Tagewerk unter vielen, für sie das Ende von allem.
    Schreie drangen aus dem Wald. »Was ist da los?«, fragte Nagel. »Ich weiß nicht, Untersturmführer«, erwiderte ein Unterführer, »ich gehe mal nachschauen.« Er verschwand seinerseits im Wald. Einige Juden gingen schleppenden Schrittes hin und her, den Blick zu Boden gerichtet, dumpf und schweigend wie beschränkte Menschen, die auf den Tod warten. Ein auf seinen Fersen hockender Jugendlicher summte einen Abzählvers vor sich hin und betrachtete mich neugierig; er führte zwei Finger an die Lippen; ich gab ihm eine Zigarette und Streichhölzer: Er dankte mir mit einem Lächeln. Der Unterführer tauchte am Waldrand auf und rief: »Sie haben ein Massengrab gefunden, Untersturmführer.« – »Was soll das heißen, ein Massengrab?« Nagel ging auf den Wald zu, und ich folgte ihm. Unter den Bäumen ohrfeigte der Hauptscharführer einen der Juden und schrie: »Das hast du doch gewusst, oder? Dreckskerl! Warum hast du uns nichts gesagt?« – »Was geht hier vor?«, fragte Nagel. Der Hauptscharführer hörte auf, den Juden zu ohrfeigen, und antwortete: »Sehen Sie hier, Untersturmführer! Wir sind auf ein Massengrab der Bolschewiki gestoßen.« Ich trat an den Rand des Grabens, den die Juden ausgehoben hatten; am Boden erkannte ich modernde, eingefallene, fast mumifizierte Leichen. »Sie müssen im Winter erschossen worden sein«, meinte ich. »Deshalb sind sie noch nicht verwest.« Ein Soldat am Boden des Grabens richtete sich auf. »Scheint so, als hätten sie eine Kugel ins Genick bekommen, Untersturmführer. Das muss das NKWD gewesen sein.« Nagel rief den Dolmetscher: »Fragen Sie ihn, was passiert ist.« Der Dolmetscher übersetzte, dann redete der Jude. »Er sagt, die Bolschewiki hätten viele Männer im Dorf festgenommen. Aber er behauptet, sie hätten nicht gewusst, dass sie hier vergraben wurden.« – »Klar, diese Lumpen haben nichts gewusst!«, derHauptscharführer explodierte. »Sie haben sie selbst umgebracht, so war es!« – »Beruhigen Sie sich, Hauptscharführer. Lassen Sie dieses Grab zuschütten und woanders graben. Aber kennzeichnen Sie den Ort, für den Fall, dass man wegen einer Untersuchung wiederkommen muss.« Wir kehrten zur Absperrung zurück; die Lastwagen brachten die übrigen Juden heran. Zwanzig Minuten später tauchte der

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