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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Hauptscharführer mit hochrotem Kopf wieder auf. »Wir sind auf weitere Gräber gestoßen, Untersturmführer. Es ist unglaublich, der ganze Wald ist voller Leichen.« Nagel setzte eine kurze Besprechung an. »Es gibt nicht viele Lichtungen in diesem Wald«, meinte ein Unterführer, »deshalb graben wir an denselben Stellen wie sie.« Während ihrer Diskussion bemerkte ich, dass mir lange, sehr dünne Holzsplitter direkt unter den Nägeln in die Finger eingedrungen waren; beim Abtasten stellte ich fest, dass sie unmittelbar unter der Haut bis zum zweiten Fingerglied reichten. Das war merkwürdig. Wie waren sie dorthin gekommen? Ich hatte nichts gespürt. Ich begann, sie behutsam herauszuziehen, einen nach dem anderen, versuchte zu vermeiden, dass Blut floss. Glücklicherweise glitten sie ziemlich leicht heraus. Nagel schien einen Entschluss gefasst zu haben: »Es gibt einen anderen, tiefer gelegenen Teil des Waldes. Wir wollen es da versuchen.« – »Ich warte hier auf Sie«, sagte ich. »Gut, Obersturmführer. Ich schick jemanden, der Sie holt.« Noch immer mit meinem Problem beschäftigt, krümmte ich die Finger mehrfach: Alles schien in Ordnung zu sein. Ich entfernte mich von der Absperrung über einen flachen Hang mit wilden Kräutern und fast trockenen Blumen. Weiter unten begann ein Getreidefeld, bewacht von einem Raben, der mit gespreizten Flügeln, an den Füßen hängend, gekreuzigt worden war. Ich legte mich ins Gras und blickte in den Himmel. Dann schloss ich die Augen.
    Popp kam mich holen. »Sie sind so gut wie fertig, Obersturmführer.«Der Kessel mit den Juden war in den unteren Teil des Waldes verlegt worden. Die Verurteilten warteten geduldig unter den Bäumen, in kleinen Gruppen, einige hatten sich gegen Baumstämme gelehnt. Ein Stück weiter, im Wald, wartete Nagel mit seinen Ukrainern. Einige Juden standen in einem Graben von mehreren Metern Länge und schaufelten noch immer Schlamm über den Aushub. Ich beugte mich vor: Wasser stand im Graben, die Juden schaufelten, bis zu den Knien im Schlammwasser stehend. »Das ist kein Grab, das ist ein Schwimmbecken«, sagte ich unwirsch zu Nagel. Der reagierte gereizt: »Was soll ich machen, Obersturmführer? Wir sind auf Grundwasser gestoßen, je tiefer sie graben, desto mehr läuft nach. Wir sind zu nahe am Fluss. Aber ich habe nicht vor, den ganzen Tag Löcher in diesen Wald graben zu lassen.« Er wandte sich an den Hauptscharführer. »Gut, das reicht. Lassen Sie sie rausklettern.« Er war aschfahl. »Sind Ihre Schützen bereit?«, fragte er. Da begriff ich, dass die Ukrainer schießen sollten. »Jawoll, Untersturmführer«, erwiderte der Hauptscharführer. Er wandte sich dem Dolmetscher zu und erklärte ihm den Ablauf. Der Dolmetscher übersetzte es den Ukrainern. Zwanzig von ihnen stellten sich in Linie vor der Grube auf; die fünf restlichen packten die Juden, die gegraben hatten und von oben bis unten mit Schlamm bespritzt waren, und ließen sie, mit dem Rücken zu den Schützen, am Rand der Grube niederknien. Auf Kommando des Hauptscharführers legten die Askaris ihre Karabiner an und zielten auf die Nacken der Juden. Doch die Rechnung ging nicht auf, es sollten pro Jude zwei Schützen sein, man hatte jedoch fünfzehn Juden graben lassen. Der Hauptscharführer zählte noch einmal durch, befahl dann den Ukrainern die Gewehre abzusetzen und ließ fünf Juden wieder aufstehen, die zur Seite traten, um dort zu warten. Mehrere von ihnen rezitierten etwas mit leiser Stimme, vermutlich Gebete, sonst sagte niemand ein Wort.»Besser, wir nehmen noch ein paar Askaris hinzu«, schlug ein anderer Unterführer vor. »Dann geht es schneller.« Es folgte ein kurze Diskussion; wir hatten insgesamt nur fünfundzwanzig Ukrainer; der Unterführer schlug vor, fünf Orpos hinzuzuziehen; der Hauptscharführer meinte, man dürfe die Bewachung nicht schwächen. Gereizt beendete Nagel das Hin und Her: »Machen Sie weiter wie gehabt!« Der Hauptscharführer brüllte ein Kommando, und die Askaris legten wieder an. Nagel trat einen Schritt vor. »Alles hört auf mein Kommando …« Seine Stimme war tonlos, er machte einen Versuch, sie unter Kontrolle zu bringen. »Gebt … Feuer!« Die Salve krachte, und ich sah hinter den dünnen Rauchfähnchen der Gewehre etwas Rotes aufspritzen. Die meisten Erschossenen flogen nach vorn, mit dem Gesicht ins Wasser; zwei blieben am Rand der Grube liegen, in sich zusammengekrümmt. »Säubern Sie das und bringen Sie die Nächsten!«, befahl

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