Die Wohlgesinnten
taugten kaum mehr als ihre Männer: Angesichts der maßlosen Expansion des KL-Systems während des zurückliegenden Jahres war das WVHA gezwungen gewesen, die letzten Reserven zu mobilisieren, notorisch unfähige Leute zu befördern, Offiziere zu reaktivieren, die wegen schwerer Vergehen ausgestoßen worden waren, oder Männer zu nehmen, die niemand anders haben wollte. Hauptsturmführer Drescher, den ich an diesem Abend auch kennenlernte, bestärkte mich in meiner pessimistischen Auffassung. Drescher leitete die noch existierende Untersuchungskommission, die Konrad Morgen imLager eingerichtet hatte; er hatte mich einmal mit seinem Chef in Lublin gesehen; an diesem Abend äußerte er sich mir gegenüber in einer Nische, die etwas abseits des großen Saales lag, ziemlich freimütig über die laufenden Untersuchungen. Die Ermittlungen gegen Höß, die im Oktober kurz vor ihrem Abschluss gestanden hatten, waren im November plötzlich in sich zusammengefallen, trotz der Aussage eines weiblichen Häftlings, einer österreichischen Prostituierten: Höß hatte sie verführt und dann versucht, sie umzubringen, indem er sie in eine Strafzelle der PA eingeschlossen hatte. Nach seiner Versetzung nach Oranienburg Ende 1943 hatte Höß seine Familie im Kommandantenhaus zurückgelassen, sodass seine verschiedenen Nachfolger gezwungen waren, sich anderswo eine Unterkunft zu suchen; erst einen Monat zuvor hatte er ihren Umzug veranlasst, zweifellos wegen der russischen Bedrohung, und im Lager war es ein offenes Geheimnis, dass Frau Höß vier Lastwagen gebraucht hatte, um ihr Hab und Gut abzutransportieren. Es machte Drescher krank, aber Morgen konnte nichts gegen Höß’ Gönner ausrichten. Die Ermittlungen wurden fortgesetzt, betrafen aber nur die kleinen Fische. Wirths hatte sich zu uns gesellt, doch Drescher fuhr fort, ohne sich an der Gegenwart des Arztes zu stören; offenbar erzählte er ihm nichts Neues. Wirths machte sich Sorgen wegen der Evakuierung: Trotz Boesenbergs Plan waren weder im Stammlager noch in Birkenau die geringsten Vorkehrungen getroffen worden, Reiseproviant oder warme Bekleidung bereitzustellen. Auch ich machte mir Sorgen.
Doch die Russen rührten sich noch immer nicht. Im Westen bemühten sich unsere Truppen durchzubrechen (die Amerikaner hatten sich in Bastogne festgesetzt), und auch bei Budapestwaren wir zur Offensive übergegangen, was uns etwas Hoffnung gab. Aber die viel gerühmten V2-Raketen entpuppten sich für alle, die zwischen den Zeilen lesen konnten, als unwirksam, unsere zweite Offensive im Nordelsass war sofort ins Stocken geraten, und es bestand kein Zweifel mehr, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Anfang Januar gab ich Piontek einen Tag frei, damit er seine Familie aus Tarnowitz fortschaffen konnte, zumindest bis Breslau; ich wollte nicht, dass er sich vor Sorge verzehrte, wenn es so weit war. Es schneite regelmäßig, und wenn der Himmel aufklarte, beherrschte der schmutzige Rauch der Eisenhütten und Stahlwerke die schlesische Landschaft, Beleg für die Produktion von Panzern, Kanonen und Munition, die bis zum letzten Moment fortgesetzt wurde. So verstrichen ein Dutzend Tage in beängstigender Ruhe, nur von bürokratischen Streitigkeiten unterbrochen. Es gelang mir endlich, Baer zu überreden, Sonderrationen bereitzustellen, die beim Aufbruch an die Häftlinge verteilt werden sollten; hinsichtlich der warmen Bekleidung teilte er mir mit, man werde sie aus dem »Kanada« nehmen, das wegen fehlender Transportmöglichkeiten aus allen Nähten platze. Eine gute Nachricht lockerte die angespannte Stimmung kurzzeitig auf. Eines Abends fand sich Drescher im Haus mit zwei Kognakgläsern an meinem Tisch ein und lächelte in sein Bärtchen: »Glückwunsch, Obersturmbannführer«, verkündete er, reichte mir eines der Gläser und hob das andere. »Vielen Dank, aber warum?« – »Ich habe heute mit Sturmbannführer Morgen gesprochen. Ich soll Ihnen sagen, dass Ihre Angelegenheit abgeschlossen ist.« Dass Drescher informiert war, machte mir wenig aus, so erleichtert war ich über die Neuigkeit. Drescher fuhr fort: »Da es überhaupt keine konkreten Beweise gibt, hat SS-Richter von Rabingen beschlossen, die Ermittlungen gegen Sie einzustellen. Von Rabingen hat dem Sturmbannführer gesagt, er habe noch nie einen so zusammengeschusterten undso dürftig begründeten Fall erlebt. Die Kripo habe erbärmliche Arbeit geleistet. Er habe fast den Eindruck, dass es sich um eine Intrige gegen Sie
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