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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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behandelt würde. Nach meinen ungarischen Pleiten war ich misstrauisch: »Welche Machtbefugnisse habe ich?«, fragte ich Brandt. »Kann ich die erforderlichen Befehle geben?« Er wich der Frage aus: »Obergruppenführer Schmauser hat die volle Befehlsgewalt. Wenn Sie sehen, dass das Lagerpersonal nicht in der erforderlichen Weise kooperiert, wenden Sie sich wegen der nötigen Befehle an ihn.« – »Und wenn ich Probleme mit dem Obergruppenführerhabe?« – »Sie werden keine Probleme mit dem Obergruppenführer haben. Er ist ein ausgezeichneter Nationalsozialist. Auf jeden Fall werden Sie ständig mit dem Reichsführer oder mir in Verbindung stehen.« Ich wusste aus Erfahrung, dass das eine ziemlich unzuverlässige Garantie war. Aber ich hatte keine Wahl.
    Die Möglichkeit, dass der feindliche Vormarsch ein Konzentrationslager bedrohen könnte, hatte der Reichsführer am 17. Juni 1944 in einer Vorlage mit dem Titel Fall A angesprochen; darin erhielt der HSSPF der Region im Krisenfall weitreichende Vollmachten gegenüber dem Lagerpersonal. Wenn also Schmauser verstand, wie wichtig es war, ein Maximum an Arbeitskräften zu retten, ließ sich das Ganze vielleicht wirklich korrekt durchführen. Ich suchte ihn an seinem Dienstsitz in Breslau auf. Er war ein Mann der alten Schule, vielleicht fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre alt, streng, steif, aber professionell. Der Plan zur Evakuierung der Lager falle, so erklärte er mir, in den allgemeinen Rahmen der Rückzugsstrategie Auflockerung-Räumung-Lähmung-Zerstörung , die Ende 1943 konzipiert worden sei »und so erfolgreich in der Ukraine und Weißrussland angewendet wurde, wo die Bolschewisten nicht nur keine Unterkunft und Verpflegung fanden, sondern in manchen Wehrkreisen wie Nowgerod noch nicht einmal einen Menschen von potenziellem Nutzen auftreiben konnten«. Der Wehrkreis VIII hatte den Befehl zur Durchführung von ARLZ am 19. September ausgegeben. In diesem Rahmen waren bereits 65 000 Häftlinge ins Altreich evakuiert worden, darunter auch alle polnischen und russischen Häftlinge, die bei Annäherung des Feindes als mögliche Gefahr für das rückwärtige Gebiet galten. Blieben 67 000 Häftlinge, von denen 35 000 noch in den Fabriken Oberschlesiens und der benachbarten Regionen arbeiteten. Seinem Verbindungsoffizier, dem Major der Polizei Boesenberg, hatte Schmauser die Planung der endgültigen Evakuierungund der beiden letzten ARLZ-Phasen anvertraut; die Einzelheiten würde ich mit ihm klären, da ich wusste, dass nur Gauleiter Bracht in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar für Oberschlesien die Entscheidungen zur Ausführung treffen konnte. »Sie sehen«, erklärte mir Schmauser zum Schluss, »wir wissen alle, wie wichtig die Erhaltung des Arbeitspotenzials ist. Trotzdem behalten für uns, wie auch für den Reichsführer, die Sicherheitsfragen vorrangige Bedeutung. Eine solche feindliche Menschenmasse hinter unseren Linien stellt ein enormes Risiko dar, selbst wenn sie unbewaffnet ist. Siebenundsechzigtausend Häftlinge, das sind fast sieben Divisionen: Malen Sie sich sieben feindliche Divisionen während einer Offensive in Freiheit hinter unseren Linien aus! Sie wissen vielleicht, dass wir im Oktober in Birkenau einen Aufstand unter den Juden des Sonderkommandos hatten. Wir konnten ihn glücklicherweise niederschlagen, aber wir haben Männer verloren, und eines der Krematorien wurde gesprengt. Stellen Sie sich vor, es wäre ihnen gelungen, sich mit den polnischen Partisanen zu vereinigen, die sich ständig in der Umgebung des Lagers herumtreiben – sie hätten unabsehbaren Schaden anrichten und Tausenden von Häftlingen die Flucht ermöglichen können! Seit August, seit die Amerikaner die Fabrik von IG Farben bombardieren, wird jeder Angriff von Häftlingen zur Flucht genutzt. Für die endgültige Evakuierung, wenn sie denn stattfindet, müssen wir alle Vorkehrungen treffen, damit sich eine solche Situation nicht wiederholt. Wir müssen auf der Hut sein.« Ich verstand diesen Gesichtspunkt sehr gut, hatte aber Angst vor den Konsequenzen, die sich daraus ergeben konnten. Boesenbergs Darlegungen trugen nicht wesentlich zu meiner Beruhigung bei. Auf dem Papier war alles minuziös vorbereitet, mit exakten Karten für jeden Evakuierungsweg; doch Boesenberg übte heftige Kritik an Sturmbannführer Baer, der jede gemeinsame Absprache bei der Ausarbeitungdieses Plans abgelehnt hatte (eine letzte administrative Neuordnung Ende November hatte den

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