Die Wohlgesinnten
Dienststelle in der Kommandantur von Birkenau an, und ich ließ Obersturmführer Elias und Untersturmführer Darius, einen meiner neuen Mitarbeiter, aus Oranienburg kommen. Wieder wohnte ich im Haus der Waffen-SS ; ich bekam dasselbe Zimmer wie bei meinem ersten Besuch vor anderthalb Jahren. Das Wetter war fürchterlich: kalt, nass, wechselhaft. Die ganze Region lag unter Schnee, einer dicken Decke, oft mit dem Ruß der Bergwerke und Fabrikschornsteine bestreut, einem schmutzig grauen Spitzenbesatz. Im Lager war er fast schwarz, von Tausenden Häftlingen festgetreten und mit dem im Frost erstarrten Schlamm vermischt. Heftige Schneeböen kamen ohne Vorwarnung von den Beskiden herab, hüllten das Lager ein und erstickten es zwanzig Minuten lang unter einem weißen flatternden Schleier, bevor sie ebenso schnell wieder verschwanden und alles für einige Augenblicke in makelloser Reinheit zurückließen. In Birkenau rauchte nur noch ein Schornstein, unregelmäßig und stoßweise, das Krema IV, dessen Betrieb fortgesetzt wurde, um die im Lager gestorbenen Häftlinge zu beseitigen; Krema III war seit dem Aufstand vom Oktoberzerstört, die beiden anderen auf Befehl Himmlers teilweise demontiert. Der neue Bauabschnitt war aufgegeben, der größte Teil der Baracken abgerissen, sodass das riesige leere Gelände jetzt dem Schnee überlassen blieb; das Problem der Überbelegung war durch vorläufige Evakuierungen gelöst worden. Als die Wolkendecke aufriss, tauchte die bläuliche Linie der Beskiden hinter den geometrisch aufgereihten Baracken auf: Das Lager wirkte unter dem Schnee friedlich und ruhig. Fast jeden Tag machte ich Inspektionstouren durch die verschiedenen Nebenlager: Günthergrube, Fürstengrube, Tschechowitz, Neu-Dachs, die kleinen Lager von Gleiwitz, um den Stand der Vorbereitungen zu verfolgen. Die langen ebenen Straßen waren fast verlassen, kaum aufgewühlt von den Lastwagen der Wehrmacht; abends kehrte ich unter einem düsteren Himmel zurück, einer lastenden grauen Masse voller Schnee, der manchmal wie ein Tuch auf die fernen Dörfer fiel, und dahinter noch ein zarter Himmel, blau und blassgelb, nur mit wenigen Wolken von stummem Violett, gesäumt vom Licht der untergehenden Sonne, ein bläuliches Licht auf dem Schnee und dem Eis der Sümpfe, die die polnische Erde aufweichten. Am Abend des 31. Dezembers gab es im Haus eine stille Feier für die durchreisenden Offiziere und einige Lageroffiziere: Die Männer sangen melancholische Lieder, tranken langsam und sprachen mit gedämpfter Stimme; allen war klar, dass es der letzte Jahreswechsel im Krieg war, denn es bestand wenig Aussicht, dass das Reich noch bis zum nächsten überdauerte. Dort traf ich auch einen tief deprimierten Dr. Wirths wieder, der seine Familie nach Deutschland zurückgeschickt hatte, und Unterführer Schurz, den neuen Chef der Politischen Abteilung, der mich weit zuvorkommender behandelte als sein Kommandant. Lange diskutierte ich mit Kraus; er hatte mehrere Jahre in Russland Dienst getan, bis zu seiner schweren Verwundung bei Kursk, wo er sich gerade noch aus seinem brennendenPanzer hatte retten können; nach seiner Genesung war er dem SS-Oberabschnitt »Südost« (Breslau) zugewiesen worden und beim Stab von Schmauser gelandet. Dieser Offizier, der dieselben Vornamen – Franz Xaver – wie ein anderer Kraus trug, ein bekannter katholischer Theologe aus dem vorigen Jahrhundert, machte auf mich den Eindruck eines ernsthaften Mannes, offen für die Meinungen anderer, aber fanatisch entschlossen, seinen Auftrag nach besten Kräften zu erledigen; zwar versicherte er mir, meine Ziele bestens zu verstehen, vertrat aber gleichzeitig die Ansicht, dass natürlich kein Häftling den Russen lebend in die Hände fallen dürfe, und er war überzeugt, dass es nicht den geringsten Widerspruch zwischen den beiden Bedingungen gebe. Grundsätzlich hatte er sicherlich Recht, doch ich machte mir Sorgen – begründet, wie sich zeigen sollte –, dass zu strenge Befehle die Brutalität der Lagerwachen wecken würden, die sich jetzt, im sechsten Kriegsjahr, aus dem Abschaum der SS rekrutierten, aus Männern, die zu alt oder zu krank für die Front waren, Volksdeutschen, die kaum Deutsch sprachen, Kriegsteilnehmern, die unter psychischen Störungen litten, aber dienstfähig geschrieben waren, Alkoholikern, Drogenabhängigen, moralisch verkommenen Subjekten, die es verstanden hatten, dem Strafbataillon oder dem Erschießungskommando zu entgehen. Viele Offiziere
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