Die Wohlgesinnten
hinaus, die Wachtürme waren noch besetzt, es herrschte Ordnung; aber einige Kilometer weiter begannen sich die Kolonnen in dem Maße, wie die schwächsten Häftlinge langsamer wurden, in die Länge zu ziehen und aufzulösen. Die Zahl der Leichen am Weg nahm zu. Dichter Schneefall hatte eingesetzt, aber es war nicht sonderlichkalt, für mich jedenfalls nicht, ich hatte weitaus Schlimmeres in Russland erlebt, ich war warm angezogen und fuhr in einem geheizten Auto herum, und die Wachen, die marschieren mussten, trugen Pullover, dicke Mäntel und Stiefel; den Häftlingen dagegen musste die Kälte bis in die Knochen kriechen. Die Furcht der Wachmannschaften wuchs beständig, sie brüllten sie an, schlugen auf sie ein. Ich sah, wie eine Wache einen Häftling niederschoss, der sich hingehockt hatte, um seine Notdurft zu verrichten; ich erteilte ihr einen Verweis und verlangte von dem Untersturmführer, der die Kolonne befehligte, sie in Arrest zu nehmen; er erwiderte, er habe nicht genügend Leute, um sich das erlauben zu können. In den Dörfern ließen die polnischen Bauern, in Erwartung der Russen, die Häftlinge schweigend vorbeiziehen oder riefen ihnen etwas in ihrer Sprache zu; grob fuhren die Wachen dazwischen, wenn jemand versuchte, ihnen Brot oder andere Nahrungsmittel zuzustecken; sie waren sehr nervös, es war bekannt, dass es in den Dörfern von Partisanen wimmelte, ein Handstreich wurde befürchtet. Doch am Abend gab es in der Unterkunft, die ich besichtigt hatte, noch immer keine Suppe und kein Brot, und viele Häftlinge hatten ihre Ration bereits aufgegessen. Ich sagte mir, dass bei diesem Tempo die Hälfte oder zwei Drittel der Kolonnen noch vor dem Ziel auf der Strecke bleiben würden. Ich befahl Piontek, mich nach Breslau zu fahren. Infolge des schlechten Wetters und der Flüchtlingstrecks kam ich erst nach Mitternacht an. Schmauser schlief schon, und Boesenberg, so hörte ich beim Stab, war nach Kattowitz hochgefahren, in die Nähe der Front. Ein unrasierter Offizier zeigte mir eine Lagekarte: Die russischen Stellungen, erklärte er mir, seien eher theoretisch zu verstehen, denn sie würden so schnell vorrücken, dass man mit der Karte nicht nachkomme; während von unseren auf der Karte noch verzeichneten Divisionen einige schon nicht mehr existierten, bewegten sich andere, so die bruchstückhaftenInformationen, überrollt hinter den russischen Linien und versuchten, mit unseren zurückgenommenen Kräften Verbindung herzustellen. Tarnowitz und Krakau waren am Nachmittag gefallen. Die Sowjets stießen auch kraftvoll nach Ostpreußen hinein, und es war von noch entsetzlicheren Gräueltaten die Rede als in Ungarn. Eine Katastrophe! Doch als Schmauser mich am späten Vormittag empfing, wirkte er ruhig und selbstsicher. Ich schilderte ihm die Lage und brachte meine Forderungen vor: Verpflegung und Feuerholz in den Unterkünften sowie Karren für den Transport allzu erschöpfter Häftlinge, die man auf diese Weise gesund pflegen und wieder arbeiten lassen könnte, statt sie zu exekutieren: »Ich spreche nicht von den Typhus- oder Tuberkulosekranken, Obergruppenführer, sondern nur von denen, die Kälte und Hunger nichts entgegenzusetzen haben.« – »Unsere Soldaten leiden ebenfalls unter Hunger und Kälte«, gab er missbilligend zurück, »die Zivilisten genauso. Sie scheinen sich über die Lage nicht im Klaren zu sein, Obersturmbannführer. Wir haben anderthalb Millionen Flüchtlinge auf den Straßen. Die sind wohl etwas wichtiger als Ihre Häftlinge.« – »Diese Häftlinge sind als Arbeitskraft ein kriegswichtiger Aktivposten für das Reich, Obergruppenführer. Wir können uns in der gegenwärtigen Situation nicht erlauben, zwanzigoder dreißigtausend von ihnen zu verlieren.« – »Ich verfüge über keine Mittel, die ich Ihnen bewilligen könnte.« – »Dann geben Sie mir wenigstens einen Befehl, mit dem ich mich bei den Kolonnenführern durchsetzen kann.« Ich ließ einen Befehl mit mehreren Durchschlägen für Elias und Darius tippen, und Schmauser unterschrieb sie am Nachmittag; ich brach sofort wieder auf. Die Straßen waren fürchterlich verstopft, endlose Kolonnen von Flüchtlingen, zu Fuß oder auf Karren, vereinzelte Wehrmachtslastwagen, versprengte Soldaten. In den Dörfern wurde in Feldküchen der NSV Suppe ausgegeben. Erst spät traf ich in Auschwitz ein; meineKameraden waren bereits zurückgekommen und schliefen schon. Baer, so wurde mir mitgeteilt, hatte das Lager verlassen, vermutlich
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