Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
endgültig. Ich ging zu Kraus und traf ihn mit Schurz an, dem Chef der PA. Ich hatte Dreschers Armagnac mitgenommen, und wir tranken zusammen. Kraus erklärte mir, er habe am Morgen die Gebäude von Krema I und II sprengen, aber IV für den letzten Augenblick stehen lassen; außerdem hatte er mit den befohlenen Exekutionen begonnen und zweihundert Jüdinnen, die im Frauenlager von Birkenau verblieben waren, erschießen lassen; doch Springorum, der Regierungspräsident des Bezirks Kattowitz, hatte ihm sein Sonderkommando für dringende Aufgaben entzogen, sodass er jetzt nicht mehr genügend Männer hatte, um damit fortzufahren. Alle arbeitsfähigen Häftlinge hatten das Lager verlassen, es blieben aber nach seinen Angaben auf dem gesamten Komplex noch mehr als achttausend, die krank oder zu schwach zum Marschieren waren. Diese Leute abzuschlachten erschien mir beim gegenwärtigen Stand der Dinge vollkommen töricht und überflüssig, aber Kraus hatte seine Befehle, und es fiel nicht in meine Zuständigkeit; ich hatte auch so genügend Probleme mit den Häftlingskolonnen.
    Die folgenden vier Tage verbrachte ich damit, hinter den Kolonnen herzulaufen. Ich hatte das Gefühl, mich mit einer Schlammlawine herumzuschlagen: Ich brauchte Stunden, um voranzukommen, und wenn ich endlich einen verantwortlichen Offizier gefunden hatte und ihm meine Befehle zeigte, kam er meinen Anweisungen nur mit größtem Widerwillen nach. Hier und da gelang es mir, Verpflegung verteilen zu lassen (andernorts wurde sie auch ohne mein Eingreifen ausgegeben); die Decken der Toten ließ ich einsammeln und den Lebenden geben; es gelang mir, Karren von polnischen Bauern zu konfiszieren und sie mit erschöpften Häftlingen zu beladen. Doch als ich am nächsten Tag zu diesen Kolonnen kam, hatten die Offiziere all diejenigen erschießen lassen,die nicht aufstehen konnten, und die Karren waren fast leer. Die Häftlinge selbst sah ich mir kaum an, mich interessierte nicht ihr individuelles Schicksal, sondern ihr kollektives, außerdem sahen sie sich alle ähnlich, sie waren eine graue Masse, schmutzig und trotz der Kälte stinkend, nur isolierte Einzelheiten nahm ich wahr, die Abzeichen, einen Kopf oder nackte Füße, eine Jacke, die anders war als die anderen; Männer und Frauen waren kaum zu unterscheiden. Manchmal bemerkte ich ihre Augen unter den Falten der Decken, aber sie erwiderten keinen Blick, sie waren leer, vollkommen in Anspruch genommen von der Notwendigkeit, zu marschieren, sich vorwärtszuschleppen. Je weiter wir uns von der Weichsel entfernten, desto kälter wurde es und desto mehr Häftlinge verloren wir. Manchmal hatten die Kolonnen der Wehrmacht Platz zu machen und stundenlang am Straßenrand zu warten oder den Weg über gefrorene Felder zu nehmen, wo sie über zahllose Gräben und Erddämme klettern mussten, bevor sie wieder auf die Straße zurückkehrten. Wenn eine Kolonne Halt machte, ließen sich die halb verdursteten Häftlinge auf die Knie fallen, um den Schnee aufzulecken. Jeder Kolonne, selbst denen, die ich mit Karren ausgerüstet hatte, folgte ein Trupp Wachen, die die Häftlinge mit einer Kugel oder einem Kolbenhieb erledigten, wenn sie zu Boden fielen oder einfach stehen blieben; die Offiziere überließen es den Gemeinden, die Leichen zu begraben. Wie immer in solchen Situationen, wurde bei manchen Männern eine angeborene Brutalität angestachelt, und sie schossen in ihrem mörderischen Eifer weit über das Ziel hinaus; ihre jungen Offiziere, ebenso erschrocken wie sie, konnten sie nur schwer im Zaum halten. Und es waren nicht nur die Mannschaftsdienstgrade, die jedes Maß verloren. Am dritten oder vierten Tag suchte ich Elias und Darius, die auf der Straße unterwegs waren; sie inspizierten eine Kolonne der Laurahütte, die von der vorgesehenen Route hatte abweichenmüssen, weil die Russen sehr rasch vorgerückt waren und nicht nur von Osten, sondern auch von Norden kamen und nach meinen Informationen schon fast in Groß Strehlitz standen, kurz vor Blechhammer. Elias befand sich bei dem Kolonnenführer, einem jungen Oberscharführer, der sehr nervös und unruhig war; als ich ihn fragte, wo Darius sei, sagte er, der sei nach hinten gegangen und kümmere sich um die Kranken. Ich ging nachsehen, was er machte, und traf ihn an, wie er Häftlinge mit Pistolenschüssen erledigte. »Was zum Teufel machen Sie da?« Er nahm Haltung an und antwortete, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen: »Ich halte mich nur an Ihren Befehl,

Weitere Kostenlose Bücher