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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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fand Kraus in der Kommandantur, deren Flure mit Papieren und Unterlagen übersät waren; er war dabei, eine Flasche Schnaps zu leeren, und rauchte eine Zigarette. Ich setzte mich zu ihm und tat es ihm nach. »Hören Sie das?«, fragte er gelassen. Im Norden und Osten dröhnten dumpf und monoton die Einschläge der russischen Artillerie. »Ihre Männer wissen nicht mehr, was sie tun«, teilte ich ihm mit und goss mir einen Schnaps ein. »Das macht nichts«, sagte er. »Ich haue gleich ab. Und Sie?« – »Ich auch, ganz bestimmt. Ist das Haus noch geöffnet?« – »Nein. Die sind gestern abgezogen.« – »Und Ihre Männer?« – »Ich lasse noch ein paar hier für die Sprengungen heute Abend oder morgen. So lange halten unsere Truppen noch die Stellung. Die anderen führe ich nach Kattowitz. Haben Sie gehört, dass der Reichsführerzum Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe ernannt worden ist?« – »Nein«, sagte ich überrascht, »das wusste ich nicht.« – »Gestern. Heeresgruppe Weichsel ist sie getauft worden, obwohl sich die Front schon an der Oder befindet, teilweise auch diesseits. Der Iwan ist auch bis zur Ostsee vorgedrungen. Ostpreußen ist vom Reich abgeschnitten.« – »Ja«, sagte ich, »keine guten Nachrichten. Vielleicht kann der Reichsführer noch etwas ausrichten.« – »Das würde mich wundern. Ich glaube, wir sind im Arsch. Was soll’s, wir kämpfen bis zuletzt.« Er goss sich den Rest der Flasche ins Glas. »Tut mir leid«, sagte ich, »den Armagnac habe ich schon alle gemacht.« – »Das macht nichts.« Er trank einen Schluck, dann blickte er mich an: »Warum legen Sie sich so ins Zeug? Für Ihre Arbeiter, meine ich. Glauben Sie wirklich, die paar Häftlinge können noch etwas ändern?« Ich zuckte die Achseln und leerte mein Glas. »Ich habe meine Befehle«, sagte ich. »Und Sie? Warum legen Sie sich so ins Zeug, diese Leute zu exekutieren?« – »Ich habe auch meine Befehle. Sie sind Feinde des Reichs, ich sehe nicht ein, dass sie davonkommen sollen, wenn unser Volk untergeht. Trotzdem lasse ich es jetzt. Wir haben keine Zeit mehr.« – »Die meisten«, sagte ich und blickte in mein leeres Glas, »machen es sowieso nur noch ein paar Tage. Sie haben ja gesehen, in welchem Zustand sie sind.« Auch er leerte sein Glas und stand auf: »Also los.« Draußen gab er seinen Männern noch einige Befehle, dann wandte er sich an mich und salutierte: »Leben Sie wohl, Obersturmbannführer. Viel Glück.« – »Ihnen auch.« Ich stieg in meinen Wagen und befahl Piontek, mich nach Gleiwitz zu fahren.
    Seit dem 19. Januar fuhren von Gleiwitz täglich Züge ab, die die Häftlinge abtransportierten, sobald sie aus den näher und ferner liegenden Lagern eintrafen. Ich wusste, dass die ersten Züge nach Groß-Rosen geleitet worden waren, wo sich Baer um die Aufnahme kümmerte, aber Groß-Rosen warrasch überfüllt und lehnte es ab, noch mehr aufzunehmen; die Transporte führten jetzt durch das Protektorat und wurden von dort entweder nach Wien (in das KL Mauthausen) weitergeleitet oder nach Prag, um auf die KL des Altreichs verteilt zu werden. Als ich auf dem Bahnhof von Gleiwitz eintraf, wurde gerade ein Zug beladen. Zu meinem großen Entsetzen waren die Waggons offen und schon voller Schnee und Eis, als man die erschöpften Häftlinge mit Kolbenstößen dort hineintrieb; es gab weder Wasser noch Verpflegung noch Toiletteneimer. Ich wandte mich an die Häftlinge: Sie kamen aus Neu-Dachs und hatten seit dem Abmarsch aus dem Lager noch nichts zu essen bekommen; einige seit vier Tagen nicht. Fassungslos starrte ich die gespenstischen Skelette an, die, in durchnässte und gefrorene Decken gehüllt, dicht aneinandergedrängt in den Waggons voller Schnee standen. »Wer hat hier das Kommando?«, herrschte ich eine der Wachen an. Der Mann zuckte wütend mit den Achseln: »Keine Ahnung, Obersturmbannführer. Uns hat man nur befohlen, sie in den Zug zu schaffen.« Ich betrat das Hauptgebäude und verlangte den Bahnhofsvorsteher zu sprechen, einen großen mageren Mann mit Hitlerbärtchen und runder Nickelbrille: »Wer ist für diese Züge verantwortlich?« Er wies mit der roten Fahne, die er zusammengerollt in der Hand hielt, auf meine Rangabzeichen: »Sind Sie das nicht, Herr Offizier? Auf jeden Fall, glaube ich, ist es die SS.« – »Wer genau? Wer stellt die Transporte zusammen? Wer stellt die Waggons bereit?« – »Eigentlich«, erwiderte er und steckte sich die Fahne unter den Arm, »die Reichsbahndirektion

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