Die Wohlgesinnten
an«, sagte ich, »alte Freunde. Welch schöner Zufall führt Sie hierher?« Clemens richtete einen dicken Finger auf mich: »Sie, Aue. Sie suchen wir.« Immer noch lächelnd, tippte ich auf meinen Kragenspiegel: »Haben Sie meinen Dienstgrad vergessen, Kriminalkommissar?« – »Wir pfeifen auf Ihren Dienstgrad«, knurrte Clemens. »Sie verdienen ihn nicht.« Zum ersten Mal mischte sich Weser ein: »Als Sie die Mitteilung von Richter Rabingen erhielten, haben Sie sicher gedacht: Das war’s, die Sache ist erledigt, nicht wahr?« – »Genau so habe ich das verstanden. Wenn ich mich nicht täusche, hält man Ihre Ermittlungsakte für höchst schludrig.« Clemens zuckte die Achseln: »Die Richter wissen auch nicht mehr, was sie wollen. Aber das heißt nicht, dass sie Recht haben.« – »Pech für Sie«, sagte ich leichthin, »Sie stehen nun einmal im Dienst der Justiz.« – »Genau«, grunzte Clemens, »wir dienen der Justiz. Aber damit dürften wir ziemlich allein stehen.« – »Und um mir das zu sagen, haben Sie die lange Reise nach Schlesien unternommen? Ich fühle mich geschmeichelt.« – »Nicht ganz«, sagte Weser und ließ seinen Stuhl nach vorn kippen. »Sehen Sie, wir haben einen Gedanken gehabt.« – »Mal was ganz Neues«, sagte ich und hob die Tasse an meine Lippen. »Ich will es Ihnen sagen, Aue. Ihre Schwester hat uns gesagt, dass sie kurz vor dem Mord in Berlin war und sich mit Ihnen getroffen hat. Dass sie im Kaiserhof gewohnt hat. Also sind wir in den Kaiserhof gegangen. Da ist der Freiherr von Üxküll gut bekannt, ein Stammgast des Hotels mit festen Gewohnheiten. An der Rezeption hat sich einer der Angestellten erinnert, dass einige Tage nach Üxkülls Abreise ein SS-Offizier erschienen ist, der ein Telegramm an Frau von Üxküll geschickt hat. Und sehen Sie, wenn Sie ein Telegramm von einem Hotel abschicken, wird es in einem Verzeichnis festgehalten. Jedes Telegramm bekommt eine Nummer. Und in der Post bewahren sie eineKopie des Telegramms auf. Drei Jahre lang, das ist gesetzlich vorgeschrieben.« Er zog einen Zettel aus der Innentasche seines Mantels und entfaltete ihn. »Erkennen Sie das, Aue?« Ich lächelte noch immer. »Die Untersuchung ist abgeschlossen, meine Herren.« – »Sie haben uns angelogen, Aue!«, donnerte Clemens. »Genau, und es gehört sich nicht, die Polizei anzulügen«, pflichtete ihm Weser bei. In aller Ruhe trank ich meinen Tee aus, nickte ihnen höflich zu, wünschte ihnen noch einen schönen Tag und schloss die Tür hinter ihnen.
Draußen hatte wieder ein heftiges Schneetreiben eingesetzt. Ich kehrte zum Bahnhof zurück. Eine große Schar Häftlinge wartete auf einem unbebauten Grundstück, saß, den Windböen ausgeliefert, in Schnee und Schlamm. Ich versuchte, ihnen Zutritt zum Bahnhof zu verschaffen, aber der Wartesaal war von Wehrmachtssoldaten belegt. Piontek und ich schliefen völlig erschöpft im Wagen. Am nächsten Morgen war das unbebaute Grundstück, abgesehen von einigen Dutzend eingeschneiten Leichen, leer. Ich suchte den Obersturmführer vom Vortag, ich wollte sehen, ob er meine Befehle befolgte, doch die grenzenlose Nutzlosigkeit des Ganzen deprimierte mich und lähmte mich in meiner Tatkraft. Mittags stand mein Entschluss fest. Ich befahl Piontek, Benzin zu besorgen, und setzte mich über die Sipo mit Elias und Darius in Verbindung. Am frühen Nachmittag war ich auf dem Weg nach Berlin.
Die Kämpfe zwangen uns zu einem beträchtlichen Umweg, über Ostrau, dann Prag und Dresden. Piontek und ich wechselten uns beim Fahren ab, wir brauchten zwei Tage. Einige Dutzend Kilometer vor Berlin mussten wir uns einen Weg durch die Flüchtlingsströme aus dem Osten bahnen, die Goebbels zur Umgehung der Stadt zwang. Im Zentrum standvon der Außenstelle des Innenministeriums, in dem sich meine Dienststelle befunden hatte, nur noch ein ausgeweidetes Skelett. Es regnete, ein kalter, unangenehmer Regen, der die noch festen Schneebretter auf den Trümmern aufweichte. Die Straßen waren schmutzig und schlammig. Endlich fand ich Grothmann, der mir mitteilte, dass Brandt sich mit dem Reichsführer in Deutsch Krone, in Pommern, aufhielt. Daraufhin fuhr ich nach Oranienburg, wo meine Dienststelle funktionierte wie eh und je – wie abgelöst von der Welt. Asbach berichtete, dass Fräulein Praxa bei einem Fliegerangriff Verbrennungen an Arm und Brust erlitten und er sie in ein Krankenhaus in Franken habe bringen lassen. Elias und Darius hatten sich nach dem Fall von
Weitere Kostenlose Bücher