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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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getroffen, angeklagt war Oberleutnant von Schlabrendorff, einer der Verschwörer aus dem Stab der Heeresgruppe Mitte;nach dem Angriff fand man den Richter Freisler mausetot, die Akte Schlabrendorff noch in der Hand haltend, den Kopf, wie es hieß, von der bronzenen Führerbüste zerschmettert, die bei seinen leidenschaftlich gehaltenen Plädoyers hinter ihm thronte.
    Verreisen schien eine gute Idee zu sein, aber wohin? Baden, ein romantischer Urlaub, kam nicht in Frage. Thomas wollte seine Eltern aus einem Vorort von Wien fortbringen und schlug mir vor, sie an seiner Stelle auf den Hof eines Vetters zu fahren. »Du hast Eltern?« Er sah mich verdutzt an: »Natürlich. Jeder hat Eltern. Warum?« Aber Wien schien mir schrecklich kompliziert für einen Genesungsurlaub zu sein, und Thomas pflichtete mir sofort bei. »Mach dir keine Gedanken. Ich kann das schon regeln. Erhol dich irgendwo anders.« Ich hatte noch immer keine Idee; trotzdem ließ ich Piontek ausrichten, er solle mich, mit mehreren Kanistern Benzin versehen, am nächsten Morgen abholen. In dieser Nacht schlief ich wenig, ich hatte Kopf- und Ohrenschmerzen, die mich immer wieder weckten, zweimal übergab ich mich, aber da war noch etwas anderes. Als Piontek erschien, nahm ich meinen Urlaubsschein – der unbedingt erforderlich war, um die Kontrollposten zu passieren –, die Flasche Kognak und die vier Zigarettenpäckchen, die mir Thomas geschenkt hatte, den Kleidersack mit meinen Sachen und Kleidung zum Wechseln und ließ Piontek, ohne ihm auch nur einen Kaffee angeboten zu haben, abfahren. »Wohin fahren wir, Obersturmbannführer?« – »Nehmen Sie die Straße nach Stettin.«
    Ich bin mir sicher, ich hatte es gesagt, ohne zu überlegen; aber nachdem ich es gesagt hatte, schien mir klar zu sein, dass es nichts anderes hätte sein können. Wir mussten komplizierte Umwege machen, um die Autobahn zu erreichen; Piontek, der die Nacht in der Fahrbereitschaft verbracht hatte, erklärte mir, Moabit und der Wedding seien dem Erdbodengleichgemacht worden und Scharen von Berlinern hätten sich dem Strom der Flüchtlinge aus dem Osten angeschlossen. Auf der Autobahn zog sich die Schlange von Pferdekarren, die meisten mit behelfsmäßigen weißen Planen, unter denen sich die Menschen vor dem Schnee und der schneidenden Kälte zu schützen suchten, endlos hin, die Pferde mit ihren Köpfen am Wagenheck vor ihnen, von Schupos und Feldgendarmen auf die rechte Seite gedrängt, damit die Kolonnen der Militärfahrzeuge auf ihrem Weg zur Front passieren konnten. Wenn eine Schturmowik auftauchte, brach Panik aus, die Menschen sprangen von den Fuhrwerken und flüchteten in die verschneiten Felder, während der Sturmvogel über die Kolonne strich und die Nachzügler mit Feuerstößen aus seinen Bordwaffen niedermähte, die Köpfe und Bäuche der in wilden Schrecken versetzten Pferde zerfetzte, die Matratzen und Karren in Brand schoss. Nach einem dieser Angriffe kam ich zu meinem Wagen zurück, er hatte mehrere Treffer erhalten, die Türen waren durchlöchert, die Heckscheibe zersplittert; zum Glück hatte der Motor nichts abbekommen und der Kognak auch nicht. Ich reichte Piontek die Flasche und nahm selbst einen Schluck, und wir fuhren wieder an, inmitten der Schreie der Verwundeten und des Gebrülls der entsetzten Zivilisten. In Stettin überquerten wir die Oder, die Kriegsmarine hatte ihr frühzeitiges Auftauen mit Dynamit und Eisbrechern beschleunigt; wir umfuhren dann den Madüsee im Norden, durchquerten Stargard, das von Männern der Waffen-SS mit schwarz-gelb-roten Ärmelabzeichen besetzt war, also Degrelles Männern. Wir setzten unseren Weg auf der großen Straße nach Osten fort, ich wies Piontek mit einer Karte den Weg, da ich noch nie in dieser Gegend gewesen war. Die überfüllte Straße führte erst an hügeligen Feldern entlang, die mit sauberem Schnee bedeckt waren, unberührt und kristallen, dann an Birkenwäldern oder düsteren, dunklen Kiefernbeständen.Hier und da ein einsamer Hof, lange gedrungene Gebäude, die sich unter ihre schneebedeckten Strohdächer duckten. Die kleinen Dörfer aus roten Ziegelbauten, grauen Spitzdächern und nüchternen protestantischen Kirchen wirkten erstaunlich ruhig mit den Bewohnern, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Hinter Wangerin blickten wir auf kalte graue Seen, bei denen nur die Uferzonen gefroren waren. Wir fuhren durch Dramburg und Falkenburg; in Tempelburg, einer Kleinstadt am Südufer des Dratzigsees,

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