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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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im Grunde nur ein langer Gang aus Beton und machte mir keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck, aber ich hatte keine Wahl. Außer den Gestapo-Offizieren wurden noch einige Gefangene hineingelassen, unrasierte Männer mit Ketten an den Füßen, die aus benachbarten Zellen geholt worden sein mussten: Ich erkannte einige von ihnen, Juli-Verschwörer, deren Gesichter ich in der Zeitung oder der Wochenschau gesehen hatte. Der Angriff war ungeheuer heftig; der kompakte Bunker mit seinen Mauern von mehr als einem Meter Stärke schwankte von einer Seite zur anderen wie ein Schilfrohr im Wind. Ich hatte das Gefühl, mich im Zentrum eines Orkans zu befinden, einesungeheuren Aufruhrs nicht der Elemente, sondern eines reinen, ungezähmten Lärms, des geballten Lärms einer entfesselten Welt. Der Druck der Explosionen lastete schmerzhaft auf dem Trommelfell, ich hörte nichts mehr und hatte Angst, dass es reißen würde, so weh tat es mir. Ich wollte weggefegt, zerschmettert werden, ich konnte es nicht mehr ertragen. Die Gefangenen, die sich nicht hatten setzen dürfen, lagen am Boden, meist zusammengerollt. Dann war mir, als ob ich von einer Riesenhand hochgehoben und fortgeschleudert würde. Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten mehrere Gesichter über mir. Sie schienen zu schreien, ich verstand nicht, was sie wollten. Ich schüttelte den Kopf, spürte aber, dass mehrere Hände ihn ergriffen und mich zwangen, ihn still zu halten. Nach dem Alarm wurde ich hinausgeführt. Thomas stützte mich. Obwohl wir Mittag hatten, war der Himmel schwarz von Rauch, Flammen leckten aus den Fenstern des Gestapo-Gebäudes, im Park brannten Bäume wie Fackeln, die ganze Hinterwand des Palais war eingestürzt. Thomas setzte mich auf die Reste einer pulverisierten Bank. Ich fasste mir ins Gesicht: Das Blut lief mir über die Wange. Meine Ohren dröhnten, aber ich nahm Geräusche wahr. Thomas kam zu mir zurück: »Hörst du mich?« Ich nickte; trotz der schrecklichen Ohrenschmerzen verstand ich, was er sagte. »Beweg dich nicht. Du hast einen scheußlichen Schlag abgekriegt.« Etwas später wurde ich in einen Opel verfrachtet. Auf dem Askanischen Platz brannten verbogene Autos und Lastwagen, der Anhalter Bahnhof schien in sich zusammengefaltet zu sein und spie schwarzen, beißenden Rauch aus, das Europahaus und die benachbarten Gebäude standen ebenfalls in Flammen. Vergeblich kämpften Soldaten und Hilfskräfte, schwarz von Rauch, gegen die Brände. Ich wurde in die Kurfürstenstraße, in Eichmanns Dienststelle, gefahren, die noch stand. Dort wurde ich mit anderen Verwundeten auf einen Tisch gelegt. Der Sturmbannarzt, den ich kannte, kam,aber ich hatte seinen Namen erneut vergessen: »Sie schon wieder«, sagte er liebenswürdig. Thomas berichtete ihm, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand des Bunkers geschleudert worden und zwanzig Minuten lang ohne Bewusstsein gewesen sei. Der Arzt ließ mich die Zunge herausstrecken und leuchtete mir mit einem grellen Licht in die Augen. »Sie haben eine Gehirnerschütterung«, sagte er. Er wandte sich an Thomas: »Sorgen Sie dafür, dass sein Kopf geröntgt wird. Wenn er keinen Schädelbruch hat, drei Wochen Ruhe.« Er kritzelte etwas auf einen Zettel, gab ihn Thomas und verschwand. Thomas sagte: »Ich suche dir ein Krankenhaus für die Röntgenaufnahme. Wenn sie dich nicht dabehalten, kannst du dich bei mir zu Hause erholen. Ich kümmere mich um Grothmann.« Ich lachte: »Und wenn du kein Zuhause mehr hast?« Er zuckte die Achseln: »Dann kommst du hierher.«
    Ich hatte keinen Schädelbruch, und Thomas hatte noch immer ein Zuhause. Abends kam er zurück und drückte mir ein unterschriebenes und abgestempeltes Blatt Papier in die Hand: »Dein Urlaub. Du solltest Berlin lieber verlassen.« Ich hatte Kopfschmerzen und schlürfte Kognak mit Soda. »Und wohin?« – »Keine Ahnung. Wie wär’s bei deiner kleinen Freundin in Baden?« – »Die Amerikaner könnten vor mir da sein.« – »Das stimmt. Nimm sie mit nach Bayern oder Österreich. Such dir ein kleines Hotel, das wird ein romantischer Urlaub. Ich würde ihn nutzen, wenn ich du wäre. Gut möglich, dass du so bald keinen mehr kriegst.« Er zog eine Bilanz des Fliegerangriffs: Die Räume der Gestapo-Dienststelle waren nicht mehr zu benutzen, die alte Reichskanzlei war zerstört, die neue, die von Speer, stark beschädigt, sogar die privaten Wohnräume des Führers hatten gebrannt. Eine Bombe hatte den Volksgerichtshof während einer Verhandlung

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