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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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PionteksTod war schnell erledigt, aber ich musste eine Vielzahl von Formularen ausfüllen, um den Verlust des Fahrzeugs zu rechtfertigen. Am Abend fuhren wir zu Thomas nach Wannsee: Das Haus war unbeschädigt, aber es gab weder Elektrizität noch fließendes Wasser, daher konnten wir nur eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser vornehmen und uns mühselig rasieren, bevor wir schlafen gingen. Am nächsten Morgen fuhr ich, in frischer Uniform, nach Hohenlychen, um mich bei Brandt zu melden. Kaum hatte er mich gesehen, befahl er mir, zu duschen, mir das Haar schneiden zu lassen und ihm erst wieder in einem korrekten Aufzug unter die Augen zu treten. Das Krankenhaus verfügte über heiße Duschen, lustvoll verbrachte ich dort fast eine Stunde unter dem Wasserstrahl; dann ging ich zum Friseur und nutzte die Gelegenheit, mich mit heißem Wasser rasieren und mit Kölnischwasser einsprengen zu lassen. Nahezu erfrischt, präsentierte ich mich wieder bei Brandt. Er hörte sich meinen Bericht mit gestrenger Miene an, schalt mich barsch, dass ich das Reich mit meiner Unbesonnenheit mehrere Wochen meiner Arbeit gekostet hätte, dann teilte er mit, dass ich inzwischen als vermisst gemeldet worden sei; meine Arbeitsgruppe sei aufgelöst, meine Mitarbeiter anderen Aufgaben zugeteilt und meine Akten archiviert. Im Augenblick habe der Reichsführer keine Verwendung für mich; und Brandt befahl mir, nach Berlin zurückzukehren und mich bei Kaltenbrunner zu melden. Nach unserer Unterredung bat mich sein Sekretär in sein Dienstzimmer und händigte mir meine persönliche Post aus, die Asbach nach der Schließung der Diensträume in Oranienburg geschickt hatte: vor allem Rechnungen, eine kurze Nachricht von Ohlendorf wegen meiner Verletzung im Februar und einen Brief von Helene, den ich ungeöffnet einsteckte. Dann kehrte ich nach Berlin zurück. In der Kurfürstenstraße herrschten chaotische Verhältnisse: Das Gebäude beherbergte jetzt die Leitung des RSHA undder Gestapo sowie zahlreiche Vertreter des SD; niemand hatte genügend Platz, kaum einer wusste, was er zu tun hatte, die Menschen irrten ziellos in den Fluren umher und versuchten, sich nach außen hin gelassen zu geben. Da Kaltenbrunner mich erst am Abend vorlassen konnte, setzte ich mich in einer Ecke auf einen Stuhl und las Die Lehrjahre des Gefühls weiter, die bei der Überquerung der Oder erneut gelitten hatten, aber ich wollte ihre Lektüre unbedingt beenden. Kaltenbrunner ließ mich rufen, kurz vor der letzten Begegnung zwischen Frédéric und Madame Arnoux, wie ärgerlich. Er hätte ruhig noch etwas warten können, zumal er nicht die geringste Ahnung hatte, was er mit mir anfangen sollte. Schließlich ernannte er mich, fast auf gut Glück, zum Verbindungsoffizier beim OKW. Meine Aufgabe: Dreimal pro Tag hatte ich mich in die Bendlerstraße zu begeben und Bericht zu erstatten über Funkmeldungen zur Lage an der Front; den Rest der Zeit konnte ich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Der Flaubert war rasch beendet, doch ich fand andere Bücher. Ich hätte auch spazieren gehen können, aber das war nicht empfehlenswert. Die Stadt befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Überall gähnten leere Fensterhöhlen; regelmäßig hörte man unter ungeheurem Lärm Häuserwände einstürzen. Auf den Straßen waren Aufräumkommandos unablässig damit beschäftigt, die Trümmer beiseitezuschaffen und in größeren Abständen zu stapeln, damit die wenigen Autos sich hindurchschlängeln konnten, doch häufig stürzten diese Haufen ihrerseits um, sodass die Trupps von vorn anfangen mussten. Die Frühlingsluft war beißend, geschwängert mit schwarzem Rauch und Ziegelstaub, der einem zwischen den Zähnen knirschte. Der letzte große Fliegerangriff hatte drei Tage vor unserer Rückkehr stattgefunden: Dabei hatte die Luftwaffe ihre neue Waffe eingesetzt, außerordentlich wendige Maschinen, die dem Feind einige Verluste zugefügt hatten; seither hatte es nur Störangriffe derMosquitos gegeben. Der Sonntag nach unserer Ankunft war der erste schöne Frühlingstag des Jahres 1945: Im Tiergarten trieben die Bäume Knospen, Gras spross auf den Trümmerhaufen und färbte die Gärten grün. Doch wir hatten wenig Gelegenheit, das schöne Wetter zu genießen. Die Lebensmittelzuteilung beschränkte sich seit dem Verlust der Ostgebiete auf ein absolutes Minimum; selbst die guten Restaurants hatten nicht mehr viel zu bieten. Der Personalbestand der Ministerien wurde zur Aufstockung der Wehrmacht

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