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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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liebsten hätte ich auf der Stelle eine geschluckt, aus Trotz. Flaubert, davon war ich überzeugt, wäre an so viel zur Schau getragener Dummheit erstickt. Diese demonstrativen Anwandlungen von Pessimismus wechselten mit ekstatisch-optimistischen Freudenausbrüchen: Am Tag dieses denkwürdigen Konzerts starb Roosevelt, und Goebbels, der wohl Truman mit Peter III. verwechselte, gab am nächsten Tag das Losungswort aus: Die Zarin ist tot . Soldaten behaupteten, das Gesicht des »Alten Fritzen« in den Wolken gesehen zu haben, und für den Führergeburtstag am 20. April wurden eine entscheidende Gegenoffensive und der Sieg versprochen. Thomas zumindest behielt die Übersicht, auch wenn er nicht auf seine üblichen Machenschaften verzichtete; es war ihm gelungen, seine Eltern nach Tirol bringen zu lassen, in die Nähe von Innsbruck, in ein Gebiet, das mit Sicherheit von den Amerikanern besetzt werden würde: »Kaltenbrunner hat das veranlasst. Durch die Gestapo in Wien.« Und, als ich mich etwas überraschtzeigte: »Kaltenbrunner ist ein sehr verständnisvoller Mensch. Schließlich hat er auch Familie, er weiß, wie das ist.« Thomas hatte sofort sein zügelloses soziales Leben wieder aufgenommen und schleppte mich von Fest zu Fest, wo ich mich sinnlos betrank, während er den staunenden jungen Damen eine sehr übertriebene Fassung unserer pommerschen Odyssee zum Besten gab. Feste gab es täglich irgendwo, wir scherten uns kaum noch um die Mosquito-Angriffe und die Anweisungen der Propaganda. Unter dem Wilhelmplatz war ein Bunker in einen sehr ausgelassenen Nachtklub verwandelt worden, dort bekam man Wein und andere alkoholische Getränke, Markenzigarren, erlesene Vorspeisen; die Gäste waren vorwiegend höhere Dienstgrade von OKW, SS oder RSHA, betuchte Zivilisten und Aristokraten, außerdem Schauspielerinnen und hübsche junge Mädchen in glanzvoller Aufmachung. Wir verbrachten fast jeden Abend im Adlon , wo der Oberkellner uns feierlich und unerschütterlich im Schwalbenschwanz empfing, ins hell erleuchtete Restaurant führte und uns vom befrackten Kellner violette Kohlrabischeiben auf Silbertellern servieren ließ. Die Bar im Keller war ständig zum Brechen voll, wir trafen dort die letzten Diplomaten, Italiener, Japaner, Ungarn oder Franzosen. Eines Abends lief mir Mihai über den Weg, in weißem Anzug, mit einem kanariengelben Seidenhemd. »Immer noch in Berlin?«, fragte er mich mit einem Lächeln. »Lange her, dass ich dich gesehen habe.« Und er begann ganz unverhohlen, mir in Anwesenheit mehrerer Personen Avancen zu machen. Ich packte ihn beim Arm, drückte sehr fest zu und zog ihn zur Seite: »Hör damit auf!«, zischte ich. »Womit aufhören?«, fragte er grinsend. Dieses selbstgefällige und berechnende Grinsen brachte mich aus der Fassung. »Komm!«, sagte ich und schob ihn unauffällig in Richtung Toiletten. Es war ein großer weißer Raum, gefliest, mit massiven Waschbecken und Urinalen, strahlend hell. Ich musterte die Kabinen:Sie waren leer. Daraufhin schloss ich die Tür ab. Mihai betrachtete mich lächelnd, eine Hand in der Tasche seiner weißen Jacke, in der Nähe der Waschbecken mit den dicken Messingarmaturen. Er trat auf mich zu, immer noch mit seinem anzüglichen Lächeln; als er den Kopf hob, um mich zu küssen, nahm ich meine Mütze ab und versetzte ihm einen heftigen Kopfstoß. Unter dessen Gewalt zersplitterte seine Nase, Blut spritzte, er heulte auf und fiel zu Boden. Ich trat über ihn hinweg und schaute mich, die Mütze noch immer in der Hand, im Spiegel an: Ich hatte Blut an der Stirn, aber mein Kragen und die Uniform hatten nichts abbekommen. Sorgfältig wusch ich mir das Gesicht und setzte die Mütze wieder auf. Am Boden wand sich Mihai in Schmerzen und hielt sich die Nase, jämmerlich stöhnte er: »Warum hast du das getan?« Seine Hand krallte sich in mein Hosenbein; ich riss meinen Fuß los und sah mich in dem Raum um. In der Ecke stand ein Schrubber in einem Zinkeimer. Ich nahm ihn, legte den Stiel quer über Mihais Hals und stellte mich darauf; einen Fuß auf jeder Seite seines Halses, wippte ich auf dem Stiel leicht hin und her. Mihais Gesicht unter mir lief rot an, scharlachfarben, dann violett; sein Kiefer zuckte krampfhaft, seine hervorquellenden Augen starrten mich entsetzt an, seine Nägel kratzten über meine Stiefel; hinter mir schlugen seine Füße auf die Fliesen. Er wollte sprechen, aber kein Ton drang aus seinem Mund, seine geschwollene Zunge quoll obszön hervor. Er

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