Die Wohlgesinnten
entleerte sich mit einem weichen Geräusch, der Geruch der Scheiße erfüllte den Raum; noch ein letztes Mal schlug er mit den Beinen auf den Boden, dann erschlaffte er. Ich stieg vom Schrubber, räumte ihn wieder weg, tippte mit der Stiefelspitze gegen Mihais Wange. Sein schlaffer Kopf rollte zur Seite und wieder zurück. Ich fasste ihn unter den Achseln, zog ihn in eine Kabine und setzte ihn auf die Kloschüssel, seine Beine stellte ich gerade vor ihn hin. Diese Kabinen hatten ein Schnappschloss, dassich um eine Schraube drehte: Indem ich den Riegel mit der Spitze meines Tachenmessers hochhielt, konnte ich die Tür zuziehen und das Schloss einschnappen lassen, sodass die Kabine von innen verschlossen war. Ein wenig Blut war auf die Fliesen getropft; ich säuberte sie mit dem Schrubber, spülte ihn anschließend aus, wischte den Stiel mit meinem Taschentuch ab und stellte ihn wieder in den Eimer, wo ich ihn gefunden hatte. Schließlich verließ ich die Toilette. An der Bar bestellte ich ein Glas; Gäste gingen zur Toilette und verließen sie wieder, niemand schien etwas zu bemerken. Ein Bekannter fragte mich: »Hast du Mihai gesehen?« Ich blickte mich um: »Nein, er muss dort hinten sein.« Ich trank mein Glas aus und ging zu Thomas hinüber. Gegen ein Uhr morgens kam Unruhe auf: Die Leiche war entdeckt worden. Diplomaten stießen entsetzte Rufe aus, die Polizei kam, befragte uns, wie alle anderen sagte ich, dass ich nichts gesehen hätte. Ich hörte nichts mehr von dieser Angelegenheit. Schließlich begann die Offensive der Russen: In der Nacht zum 16. April griffen sie die Seelower Höhen an, das Tor zur Stadt. Der Himmel war bedeckt, es nieselte; ich verbrachte den Tag und einen Teil der Nacht damit, Lageberichte von der Bendlerstraße zur Kurfürstenstraße zu bringen, ein kurzer Weg, der allerdings durch die Angriffe der Schturmowiks erschwert wurde. Gegen Mitternacht traf ich Osnabrugge in der Bendlerstraße: Er sah fassungslos, völlig verstört aus. »Sie wollen alle Brücken der Stadt sprengen.« Er weinte fast. »Na«, sagte ich, »wenn der Feind anrückt, ist das doch wohl normal, oder?« – »Sie machen sich nicht klar, was das heißt! Es gibt neunhundertfünfzig Brücken in Berlin. Wenn wir die in die Luft jagen, stirbt die Stadt! Für immer. Keine Lebensmittel mehr, keine Industrie. Schlimmer noch, alle Stromund Wasserleitungen laufen über diese Brücken. Können Sie sich das vorstellen? Die Epidemien? Die Menschen, die in den Ruinen verhungern?« Ich zuckte die Achseln: »Wir könnendie Stadt doch nicht einfach den Russen ausliefern.« – »Aber das ist doch kein Grund, alles zu demolieren! Wir könnten uns doch darauf beschränken, nur die Brücken der Hauptachsen zu sprengen.« Er wischte sich die Stirn ab. »Eines kann ich Ihnen jedenfalls sagen, lassen Sie mich meinetwegen erschießen, aber es ist das letzte Mal. Wenn dieser ganze Wahnsinn vorbei ist, ist es mir egal, für wen ich arbeite, ich werde bauen. Es muss ja auch wieder aufgebaut werden, oder?« – »Aber ja. Können Sie denn überhaupt noch eine Brücke bauen?« – »Sicher, sicher doch«, sagte er im Fortgehen und nickte vor sich hin. Später in derselben Nacht fuhr ich zu Thomas hinaus, in sein Haus in Wannsee. Er schlief nicht, er saß allein im Salon, im Hemd, und trank. »Na?«, fragte er mich. »Wir halten noch immer die Seelower Schanzen. Aber im Süden überqueren ihre Panzer die Neiße.« Er zog eine Grimasse: »Ja. Ist sowieso alles im Arsch.« Ich legte meine Mütze und meinen durchnässten Mantel ab und goss mir ein Glas ein. »Es ist also aus?« – »Aus«, bestätigte Thomas. »Haben wir wieder verloren?« – »Ja, wieder.« – »Und was wird dann?« – »Dann? Warten wir’s ab. Deutschland wird sicherlich nicht von der Landkarte verschwinden, ob es Herrn Morgenthau gefällt oder nicht. Das widernatürliche Bündnis unserer Feinde wird bis zu ihrem Sieg halten, aber nicht viel länger. Die Westmächte werden ein Bollwerk gegen den Bolschewismus brauchen. Ich gebe ihnen höchstens drei Jahre.« Ich trank und hörte zu. »Das meine ich nicht«, sagte ich schließlich. »Ah, mit uns, willst du sagen?« – »Ja, mit uns. Es werden einige Rechnungen zu begleichen sein.« – »Warum hast du dir keine Papiere ausstellen lassen?« – »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht recht daran. Was sollen wir mit diesen Papieren anfangen? Früher oder später schnappen sie uns. Und das heißt dann Strick oder Sibirien.« Thomas
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